Nach SimCity, SimEarth, SimAnt, SimLife, SimTower, SimCopter, SimGolf und Die Sims 1, 2, 3 und 4 (nach fünf Jahren immer noch erschaunlich erfolgreich — Link zur PC-Version) meldet sich Maxis mit einem erfolgversprechenden Titel zurück, der den Nerv der Zeit trifft. Denn Elternsein und Babyhaben war nie so hip wie heute: Die Generation C64 wird erwachsen und Menschen möchten nicht aussterben, also entsteht eine große Schnittmenge zwischen frischen Eltern und alten Gamern. Anstatt den Nachwuchs aber ins Kinderzimmer einzusperren, um sich bei First-Person-Shootern die Finger wundzuballern, wird das Videospiel endlich familientauglich. (War es eigentlich schon immer, Nintendo sei dank, aber man muss die Leute trotzdem immer wieder daran erinnern.)
SimBaby heißt der neueste buchstäbliche Wurf, und der Titel verrät’s, hier werden die Rollen verkehrt. Ihr steuert einen Noch-nicht-mal-Dreikäsehoch auf seiner Entwicklung von der Geburt bis zum zweiten Lebensjahr und entscheidet jeden einzelnen Schritt (schon wieder buchstäblich) seiner Entwicklung. Das Ziel ist klar: überleben. Wer es bis zum zweiten Geburtstag schafft, ohne ein Glied zu verlieren oder vor der Kirche ausgesetzt zu werden, hat es geschafft und schaltet das Free-Roaming-No-parents-Endgame frei.
Los geht’s freilich bei der Geburt. Einem Rollenspiel gleich werden die Attribute und Eigenschaften ausgewürfelt — kindgerecht: Bär, Affe, Fuchs, Eule und Nacktmull stehen für die Basiswerte. Dazu kommen Geschlecht, Haut- und Haarfarbe, Modifikatoren (Geburtsgelbsucht, Organdefekte, ADHS oder Hochbegabung) und hinzuschaltbare oder zufällig ausgewählte Extras. Zum Bespiel der Zwillingsmodus, in dem Ihr die nächsten zwei Jahre zwei Babys parallel steuert (Maus und Tastatur gleichzeitig). Oder das Gendering-Jahrzehnt, in dem Ihr geschlechtsneutral agieren müsst, sonst gibt’s massive Punktabzüge. (Dazu drückt Ihr z. B. als Babyboy beim Geschenk eines navyblauen Stramplers die Schreikrampf-Taste, so lange, bis sogar Puppen unter dem Weihnachtsbaum liegen.)
Ähnlich wie eine Mischung aus Tamagotchi und Lara Croft durchlebt Ihr das Babydasein nun in einem Wechselspiel zwischen Echt- und Spielzeit. Dabei gilt es, vor allem in den Wachphasen mit Objekten und Personen zu interagieren und dabei Entscheidungen zu treffen, die das weitere Gameplay beeinflussen. Ihr spielt jederzeit, egal welches Endgerät (PS4, Arbeits-PC, Handy) gerade zur Verfügung steht. Kompromisse gibt’s keine: Wer seinen Echtzeitzug verpasst, der wird es niemals rechtzeitig aufs Töpfchen schaffen.
Technisch kombiniert SimBaby das Feinste vom Feinen. So wurde die Totallyunrealengine um einige leistungsstarke Partikelgeneratoren und Shading-Filter erweitert, um die vielen Körpersäfte und ‑ausscheidungen realistisch umzusetzen. Für den geschickten Spieler ist es z. B. möglich, vor dem Wickeln schnell noch eine Frischkäsestulle zu schnappen, sich während des Wickelns zu erbrechen, mit beiden Händen in die gerade aufgerissene Kackawindel zu greifen, und die Hände auf dem Gesicht und der Wickelkommode abzuwischen. Wem bei dem First-Person-Anblick etwas übel wird, kann freilich die Reality herunterdrehen, verzichtet dann aber auf die Baby-did-a-bad-Thing-Trohpy.
SimBaby sorgte bereits seit den ersten Previews für Aufmerksamkeit, denn der Gameplay-Verlauf klingt vielversprechend: Sind die ersten paar Wochen erstmal über- und durchlebt, werden neue Spielelemente freigeschaltet. Im Laufe der Babyentwicklung verändern sich die sensorischen und motorischen Eigenschaften des Protagonisten — sie werden besser. Während man zu Beginn nur mit unscharfen Punkten und Strichen Gesichter auszumachen versucht, lassen sich nach einem Jahr schon Eltern von Verwandten und Wildfremden unterscheiden. Gleichzeitig erscheint ein neuer Button in der Fertigkeitenleiste: Fremdeln. Das ist durchaus vergleichbar mit dem Level- und Skill-System eines typischen Rollenspiels, zieht sich aber durch jede Phase des Spiels: die Bedienung, die Ansicht, die Umgebung. So wird das Gameplay beim Erlernen der ersten Wörter rapide kompexer. Insbesondere das Wort »Nein« öffnet Dutzende neue Handlungsmöglichkeiten — und damit wieder eine Herausforderung an die Grafik- und Physikengine, die Lebensmittel unterschiedlichster Aggregatszustände und Alltagsgegenstände miteinander verbinden muss. Auch die Story lebt von diesen Abhängigkeiten, so dass man sein Tunlichstes versuchen sollte, um nicht versehentlich den Ferber- oder Helicopter- oder Attachment-Parenting-Modus zu aktivieren.
Das zweite Kerzchen leuchtet erfolgreich auf dem genderneutral dekorierten Törtchen? Gratulation! Zum Ende folgt ein komplexer Punktevergleich, der aussagt, wie überlebensfähig, politisch und beruflich orientiert und wahrscheinlich es ist, dass sich das Baby zu einem mündigen Kleinkind weiterentwickelt. An diesem Punkt lässt sich der Spielstand speichern und in Activisions 1986-Klasser Alter Ego laden, um dort den Rest des Lebens auszuspielen.
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Ich wache auf und krabble auf das Gesicht meines Papas, kacke kräftig in die Windeln und setze gleichzeitig das Engelsgesicht »Barrymore« auf. Ruckzuck ist die Windel frisch, das Frühstück lässt nicht lange auf sich warten und ich erhalte 5 Master-of-Desaster- und 10-Daddy-at-Home-Punkte. Alles richtig gemacht. (In Wirklichkeit stehe ich gerade auf und daddel auf dem Handy.) Kurz vor dem Aufbruch zur Kita aktiviere ich den Bockig-Modus, woraufhin die Autopilot-Option erscheint. Ab sofort muss ich nichts mehr tun, und werde angezogen, zum Buggy getragen, in die Kita gefahren und dort in meiner Lieblingsspielecke abgesetzt. (Die Zeit, die ich brauche, um zur Arbeit zu kommen. Ab jetzt: Spiel am Arbeits-PC.) Nun folgt ein Klick auf »Allein gelassen dreinblicken« mit der Arm-ausstreck-Geste und der späte Nachmittag und Abend ist gerettet, wenn sich meine Eltern wie Schnitzel auf unser erneutes Zusammensein freuen. Was für ein Familienglück :).
SimBaby lebt von Realismus, Baby- und Elternironie und Kurzweiligkeit. Und den kniffligen Trophys: 10 mal auf Schulter gekotzt, 10 Dinge aus dem Müll gegessen, Blumenerde-Vergiftung überlebt, Sturz aus 30, 60, 100 cm, 50 Zigarettenstummel auf Spielplätzen gesammelt, Dinge im Wert von > 500€ von Krabbelgruppen mitgenommen, und Kita-Rückholaktion innerhalb von 10 Minuten. Ich kann nicht aufhören, den nächsten Tag zu erleben und mitzuerleben, wie das Spiel größer, bunter, komplexer und schöner wird. Besonderer Bonus in der Verpackung: Die Scratch’n’Sniff-Card, die wir noch von Leather Godesses of Phobos kennen. Die Felder werden im Spiel zu bestimmten Gelegenheiten zum Rubbeln und Schnüffeln freigegeben. Eines habe ich schon: »Kindercafé-Toilettenmülleimer«.
So, ich muss aufhören, meine Mittagsruhe ist vorbei und ich muss schockiert aufwachen und schreien, als würde ich gerade verhungern.