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Rick’s Jakobsweg-GPX-Datei herunterladen (Stand 12.10.2020)
Hintergrund zu diesem Jakobsweg, warum ich ihn empfehle und nicht empfehle, und wie man mit den herunterladbaren GPX-Dateien arbeitet, gibt es auf dieser Seite:
Hintergrund und GPX-Infos zum Jakobsweg Berlin ↦ Leipzig
Berlin-Pankow ↦ Berlin-Steglitz
(Tag 1/11)
Jakobs-Kilometer: 25 km (brutto 31 km)
Mein Startdatum für diesen Jakobsweg war von einigen lebensentscheidenden Ereignissen abhängig: Der dritte Geburtstagstag meines Sohns (an diesem Tag holte ich mir auch gleich den Pilgersegen vom benanchbarten Franziskanerkloster Pankow — herzlichsten Dank auf diesem Wege an Bruder Franz-Leo). Und, am Tag darauf, ebenfalls vor drei Jahren, begann ich eine onkologische Therapie, die bis heute mein Leben verlängert (dafür auch die schwarze Awarenessschleife am Rucksack). Das sind hervorragende Gründe zu feiern. Und auch Gründe, etwas Außergewöhnliches, etwas Neues auszuprobieren, das schon immer auf meiner Bucket List stand: einen Teil des Jakobswegs zu gehen. Das Original nach Santiago de Compostela fällt dieser Tage wegen Corona leider aus. Aber auch in Deutschland gibt es »Original«-Wege, die sich an alten römischen Routen und etablierten Handelsrouten orientieren.
Als Familienvater fiel die Entscheidung trotzdem nicht einfach. Doch die Argumentation war schlüssig: Papa geht auf Kur, und das wird im gut tun. Der Rucksack wurde mit 10-kg-Obergrenze gepackt (hier geht’s zur Jakobsweg-Rucksack-Packliste mit ausführlicher Entscheidungsfindung), alle Social-Media-Kontakte informiert (, so dass ich auf keinen Fall einen Rückzieher machen konnte), alle Unterkünfte gebucht. Zufälligerweise führt keine 100 Meter entfernt von der Haustür der offizielle Jakobsweg vorbei — am Wanderweg Nr. 5 entlang der Panke. Ich beginne meinen Weg also in Berlin-Pankow.
Klar, wer den Jakobsweg an der Haustür beginnt, kennt die unmittelbare Nachbarschaft und wird die nächsten 25 km keine Überaschungen erleben. So präsentieren sich auch mir die ersten zwei Dutzend Jakobskilometer als typische Städtearchitektur mit viel Beton und Straßen, aber auch einigen schönen Parks. Bei der Wegplanung wurde für Berlin der Wander-Hauptweg Nr. 5 herangezogen, der z. B. sehr lang am Flüsschen Panke entlangführt, einem Zufluss der Spree (beginnt in Bernau, Ende in der Havel, dann Elbe, dann in die Nordsee). Aber dieses Mal spazierte ich entlang der Panke mit einem neuen, einzigartigen Gefühl: Ich würde diesen Weg in diese Richtung nur ein Mal gehen. (Zumindest für heute.) Kein Zurückblicken, nur nach vorne schauen, weiter, immer weiter. Das war ein Gefühl, auf das ich mich wochenlang in den Vorbereitung gefreut hatte. Hallo, Gefühl 🙂
So lief ich, erwartungsgemäß, ganz knapp am Wedding vorbei, durch das Gesundbrunnenviertel hindurch (der Name geht auf eine mineralhaltige Quelle zurück, der heilende und jugenderhaltende Eigenschaften nachgesagt wurden) und mitten rein in Mitte. Vorbei am Reichstag (Via Imperii heißt übersetzt übrigens »Reichsstraße«), dem Brandenburger Tor mit der Quadriga, dem Holocaust-Mahnmal, dem Tierpark, über den Potsdamer Platz und schließlich entlang des Parks um das leichengefledderte und grundrenovierte Gleisdreieck. Und da geriet ich schon mal ins Grübeln. Das ist tatsächlich die Via Imperii? Hier sind die Römer vor 2000 Jahren entlang marschiert und die Pilger vor 1000 Jahren entlang gepilgert? Moment mal, verlief hier nicht die »Mauer«? Hmm.
Ein bisschen pilgerhafter wurde es endlich im südlichen Stadtteil Tempelhof (weltbekannt durch den Flughafen, den man in Indiana Jones 3 sieht 🙂 ). Seit August 2020 können sich Pilger bei der Königin-Luise-Gedächtniskirche ihren Stempel für den Pilgerausweis abholen. Das geschieht völlig anonym per außen angebrachter Holzbox und angekettetem Stempel. Zu meinem Besuch war noch alles intakt, die Stempeltinte feucht. Ich wünsche der Konstruktion ein langes Leben.
Jetzt aber weiter, endlich raus aus Berlin.
So schnell ging das freilich nicht, die Hauptstadt zu verlassen. Die erste Etappe endete im südlichen Berlin und bei Ausläufern von Potsdam mit Stadtteilen und Vororten, wie Schöneberg, Lankwitz (Steglitz). Schlafstelle Nr.1 war wegen Alternativlosigkeit völlig überteuert für 60 Euro (Pension Panorama oder so ähnlich). Eine sog. Monteurspension, das ist für Jakobspilger die Luxusversion einer Übernachtung. Ich lernte mit Erreichen der Schlafstelle ein interessantes neues Gefühl kennen, das meine Ängste »Werde ich das als chronisch Kranker überhaupt schaffen?« überlagerte: Die Etappenziele waren entscheidend! Die Vorfreude und Belohnung, sich nach getaner Geharbeit abends hinzusetzen, etwas zu essen und dann schlafen zu legen war bereits am ersten Abend spürbar und würde mich fortan jeden Tag begleiten.
Und noch eine interessante Lektion: Die Reduktion auf das Wesentliche ließ mich schon früh vergessen, dass ich Frau und Kind zu Hause zurückließ. Der Weg war ja nicht als Fluchtmechanimus vor Alltagsstress geplant, aber es war sehr früh eine Art Polarisierung spürbar.
Auf dem Weg zählte tatsächlich nichts anderes als der Weg.
Berlin-Steglitz ↦ Kleinmachnow
(Tag 2/11)
Jakobs-Kilometer: 9 km (brutto 20 km)
Die Motivation, am nächsten Morgen möglichst früh loszumachen, war hoch. Ich musste auf keine Synchronisierungen mit Kind, den Kitavorbereitungen, Windeln, Frühstück warten oder darum herum planen. Aufstehen, Tabletten, Duschen, etwas Fett essen, Zähne putzen, anziehen. Währenddessen gemütlich den am Vorabend ausgebreiteten Rucksackinhalt sauber zurückpacken. (Retrospektive war das sehr befriedigend: Alles, was man zum Leben braucht an einem Ort zentralisiert zu sammeln. Hier ist eine Seite mit der Rucksack-Packliste.) Ein letzter Blick zurück. Oh der Hut! Und weiter geht’s Richtung Südwesten.
Über Lankwitz (gehört zum Ortsteil Steglitz) und Marienfelde ging es heute nach Teltow. Hier war ich schon mal vor zehn Jahren auf einem Consulting-Job — streng genommen mein erster Berlin-Aufenthalt. Das Haus stand noch, aber alles war dichter zugebaut. Insgesamt, aber das war von vornherein klar, ist der gesamte Berliner und Berliner-Umgebungsteil eine besondere Herausforderung: Der Weg ist außerordentlich langweilig. Und allerhöchstens interessant für Leute, die ein Aparmentmehrfamilienhaus bauen und sich von Architekturstilen inspirieren lassen mochten. Toll, einfach weitergehen zu können, nicht mehr zurückzublicken. Stattdessen freute ich mich auf das, was noch kam.
In Teltow wurde mir allerdings ein weiteres Mal klar, wie nah und wie fern der Jakobsweg-Via-Imperii tatsächlich an der vorgestellten Streckenführung anliegen musste. Denn ein beträchtlicher Teil der Strecke führte, schon wieder, entlang des Mauerwegs (das hatten wir schon mal in Berlin; der Mauerweg ist eine berühmte 160 km Strecke entlang der alten Berliner Mauer — joggen und wandern, wo früher Menschen patroullierten und erschossen wurden). Wahrscheinlich bauten die Sowjets die Mauer genau auf der alten römischen Straße zwischen Cölln (Berlin) und Leipz (Leipzig)? Nein, sicher nicht. Aber wo wir doch schon gerade in der Gegend sind, warum den Jakobsweg nicht gleich mit einem Gedenken an das dunkelste Deutschlandkapitel verbinden?! Passt doch thematisch super zusammen. Hmm.
Beim Teltow-Streckenabschnitt musste ich Zeit vertrödeln, das war schon im Vorfeld klar. Denn der zweite Abschnitt war wegen der komplexen Übernachtungsplanung nur 9 km lang, eine Wanderdistanz für zwei Stunden. Zwei. Geh. Stunden. Womit also die restlichen acht Gehstunden verbringen, die die Beine weiterlaufen wollten?
Zum Beispiel durch Abholen des Stadtstempels (übrigens nicht mal ein Muschellogo drauf; später erzählte man mir, das wäre dann gar kein offizieller Jakobsstempel), damit vergingen mindestens fünf Minuten. Und durch Zusammenbasteln eines eigenen Mittags-Aalbrötchens. Und Suchen einer Mittagspausenbank in irgendeinem Nachbarschaftspark in Teltow Downtown — nochmal 15 Minuten vertrödelt, juhu.
Auf brutto 20 km und ein Etappenende am frühen Nachmittag statt spätem Vormittag kam ich gerade mal so, weil eine herrliche Uferpromeda gesperrt war (die Sackgasse sieht man ganz gut auf der GPX-Route). Außerdem lag das Schlafstellenziel Nr. 2 im nördlich abgelegeneren Kleinmachnow — eine AirBnb-Gelegenheit für 25 Euro. Ein bisschen eng, ein bisschen dunkel, ein bisschen viel im Souterrain, und natürlich ohne Minibar. Hallo, Askese. Aber die Vermieter waren sehr freundlich. Vielleicht war ich mit privat organisierten AirBnb-Gelegenheiten doch nicht so weit entfernt von der Art und Weise, wie Pilger vor tausend Jahren pilgerten?
Die Umgebung? Nun, die Häuser wurden kleiner, privater, die Grundstücke geräumiger, das Ambiente einen Hauch grüner, das Abendessenrestaurant ländlicher. Trotzdem war das Aufnehmen, das Spüren und Beobachten und Erleben der Umgebung höchstens interessant für Leute, die sich ein Einfamilienhaus bauen und von umgesetzten Architekturstilen inspirieren lassen mochten. Das hatte ich nicht vor. Also war das Jakobsfeeling nur oberflächlich zu spüren. Hänschen geht anscheinend ganz langsam in die Welt hinein. (Ohh, das ist sein Lieblingslied 🙂 )
Wo geht’s nun endlich raus aus diesem Ballungszentrum?
Kleinmachnow ↦ Saarmund
(Tag 3/11)
Jakobs-Kilometer: 22 km (brutto 26 km)
Der Tag (pst, leise, ganz früh im Morgengrauen) begann früh, zwischen 6 und 7. Und der Weg begann leider so, wie der vorherige endete: Stadt, Beton, Asphalt. Das hieß: Augen zu und durch. Aber diesmal lag das nachmittägliche Etappenziel in einer neuen Gegend, nämlich draußen, vor der Stadt.
Inoffiziell befand ich mich immer noch in Berlin, denn der südliche Berlin-Autobahnring 10 ist die gefühlte Grenze der Hauptstadt, und die lag noch einige Kilometer entfernt. Nach Teltow wurde es jedoch merklich natürlicher. Vorbei an kilometerlangen renaturierten Militärstützpunkten und entlang der Bundesautobahn 115 Richtung Südwesten. Das Grün und zwei, drei Pferde auf zwei, drei Pferdekoppeln konnten zwar nicht über den permanenten Autobahnhintergrundsound hinwegtäuschen, vergrößerten aber die Vorfreude auf autobahnfreie Streckenabschnitte. Es konnte nur schöner werden, Tag um Tag.
Einen ungewöhnlichen beulenförmigen 2,5‑km-langen Schlenker nach Osten später (Warum? Um den Bahnhof zu zeigen? — siehe GPX-Aufzeichnung), kam das erste wirklich kuschlige Etappenziel: der kleine Ort Saarmund. Und hier hatte ich das erste Mal das Gefühl, die Großstadt verlassen zu haben. Am Ende des dritten Tags nach dem Start in Berlin! Hier gab es keine Dönerbuden, Spätis und Baumärkte. Der einzige Supermarkt machte um 19 Uhr zu und die letzte Gastro-Abendessengelegenheit lag 10 km zurück.
Die Infrastruktureinschränkung wurden allerdings locker getoppt vom ersten authentischen Pilgergefühl. Die dritte Unterkunft war keine Pension, kein privates Zimmerchen im Souterrain, sondern eine kirchliche Institution, ein eigens für Pilger hergerichteter Platz im Gemeindezentrum (gleich neben der Kita, aber mein Wecker stand ja sowieso auf 6). Im Schnitt zahlt man 15 Euro für eine Nacht in solch einer Bleibe. Aber je näher man an Santiago de Compostela oder ein anderes großes Wallfahrtziel herankommt, desto mehr Pilgerandrang herrscht in diesen Bleiben. Wie viele vom Wandern durchgeschwitzte Mitbewohner ich wohl haben würde?
Natürlich keine! Die Chancen, in Brandenburg zu Coronazeiten alleine in Pilgerunterkünften zu nächtigen waren hoch. Ich hatte das für maximal fünf Mann und Frau ausgerichtete Zimmer (Doppelbett mit Ausziehcouch, also Kuscheln inklusive?) ganz für mich allein. Also holte ich mir ein paar Biere und prostete dem lieben Gott zu bei dieser ersten Gelegenheit, still und facebooklos über das Pilgertum und mein eigenes Pilgerintermezzo nachzudenken. Denn, und das war eine weitere Krux der Großstadtentfernung: kein Kontakt zur Familie daheim! Bislang schickte ich abends wenigstens ein Foto, ein Video, eine Gute-Nacht-Botschaft mit Herbergen-Walkthrough. Aber hier gab es kein WLAN und ich befand mich im »EDGE-Land« (das ist ein altes Mobilfunknetz). Einem Land fern jeglicher Digitalinfrastruktur, mit nur ein paar Bits und Bytes Internet, die gerade für das Studium der weiteren Strecke reichten.
Leider plagten mich ab jetzt auch wieder Probleme mit den Augen. Angst mischte sich in die bislang unbeschwerte Wanderung. Die Sorgen, wie es weitergehen würde, machten den Abend schwer und schwermütiger. Und die Mücken! Ach ja, ich hatte das Fenster offen gelassen, um meine erste handgewaschene Wäsche nachts schneller durch frische Luft trocknen zu lassen. Pilger erkennt man nämlich daran, dass sie überall ihre Wäsche in Wohnräumen aufhängen.
Also Mückenfenster zu. Fürs Wäschetrocknen wird es morgen andere Lösungen geben.
Saarmund ↦ Beelitz
(Tag 4/11)
Jakobs-Kilometer: 16 km (brutto 29 km)
Das Wäschetrockungsproblem ließ sich am nächsten Tag tatsächlich durchdacht lösen. Nämlich mit dem Regenschirm! Ich mag ja diese weit geschnitten Regenparkas nicht besonders. Da schwitzt man drunter, die Brille beschlägt, und alles wird doch irgendwie nass. Und was nicht nass wird, wird klamm und/oder vollgeschwitzt. Ich beschloss nach einigen Regenexpeditionen ein Regenschirmwanderer zu werden und trug seit meinen ersten Betatest-Wanderungen immer einen Wanderregenschirm mit mir. Der steckte einfach als Basis-Accessoire an der Rucksackseite. Und das war die ideale Wäschetrockungsaufhängmöglichkeit! Fortan hing ich hier T‑Shirts, Socken, Unterwäsche, Steaks, alles dran, was trocknen musste. Möglicherweise kann man mich in Zukunft an dieser Regenschirmhalterung auf Passantenschnappschüssen oder Verkehrskamera-Beweisfotos wiederkennen.
Erstes Ziel nach dem verträumten Dörfchen Saarmund war dann endlich die Autobahn. Ja! Endlich würde ich die letzte Bastion Berliner Verkehrspolitik überqueren: den Autobahnring. Ein paar Meter zuvor erlaubte ich mir aber noch einen kleinen Schlenker, abseits der offiziellen Jakobsroute. Denn keinen Steinwurf von der Strecke entfernt befand sich der Saarmunder Berg, mit fast 100 Meter eines der wenigen Hochgebirge im norddeutschen Tieflandbecken. Nun liegt die Wald- und Baumgrenze ein wenig über 100 Metern, was sich direkt auf die nicht vorhandene Aussicht vom Saarmunder Berg auswirkt. Aber wenigstens bewältigte ich meine ersten echten Höhenkilometer — ein Wandermeilenstein :).
Der Saarmunder Berg war nicht die einzige Sehenswürdigkeit. Hinter ihm befand sich ein kleiner Fluglandeplatz für Motor- und Ultralightflieger. Um 7 Uhr morgens war hier nicht viel los, und ich latschte mehr oder weniger ungeniert über Teile der Landebahn, bevor ich erkannte, dass es die Landebahn war. Über die nächsten zwei Tage sollte ich trotzdem den einen oder anderen Sportflieger am Himmel entdecken, der diesen Graslandeplatz anflog. Und damit kamen gleichzeitig Erinnerungen an daheim. An die Momente, bei denen ich dem Kleinen erklärte, wie das mit der warmen Luft und dem Heißluftballon funktionierte. Den Kontext total verstehend antwortete er immer mit »Ich will Affelschorle!!«. Ach der Kleine, was er jetzt wohl gerade machte? Sicher Affelschorle trinken.
Der Weg führte in einem Tunnel unter dem Autobahnring hindurch.
Und.
Ich.
Hatte.
es.
Geschafft!
(Aus Berlin raus zu sein.)
Schlagartig war ich im Wald und auf dem Feld und auf der Heide, die Blumen blühten, Schmetterlinge umflattterten mich und ich erkannte, dass die Sonne eine kreisförmige runde Form hatte. Sogar die Potsdamer Mülldeponie zu meiner Linken präsentierte sich als Foto- statt Beschwerdegelegenheit. Ach wie schön die Entlüftungszylinder über dem frischen Gras das Licht der Sonne spiegelten (siehe Foto). Und sind nicht alle alten Eiszeitmoränen über die wir wandern in Wahrheit riesige Steinmüllberge? Ein kleiner Gute-Laune-Dämpfer: Ich sah plötzlich schlechter auf der rechten Seite, ein Bereich von 10, 15 Grad war komplett grieselig. Das war ein Zeichen einer wachsenden Metastase, die sich im Sehnerv ausbreitete. Pilgersein hin oder her, die Uhr tickte also weiter.
Am besten ablenken und nicht daran denken. Mit Gedanken an die Kilometer der letzten Tage, meiner noch vorhandenen Kondition und den aktuell vorliegenden lächerlichen 16 km kam mir eine Inspiration. Ich weitete die Jakobsroute um das nächste Naturwunder aus, das bei der Jakobsplanung links (eigentlich rechts — westlich) liegengelassen wurde: den Seddiner See. Tipp: Dieses Gewässer zu umwandern statt nur mit Westblick zu streifen, lohnt sich tatsächlich. Die frühe Südostsonne gab herrliche Kontraste mit Ufer, Wasser, Himmel und Wolken, vorbei an spannenden Stränden und Bootsstegen, über einen lauschigen Wald- und Uferweg (Fotos angucken). Im Gegensatz zum üblichen Asphaltgelatsche reparierte dieser herrlich natürliche Wald- und Uferweg Fußblasen anstatt neue zu erzeugen. Zusammengefasst: Der Umrundung des Sees war ein Highlight, das ich dringend weiterempfehle.
Südlich des Sees ging es zurück auf die Originaljakobsroute, die sich inzwischen als freundlicher breiter Wirtschaftsweg präsentierte. Der Forst war nicht so dicht wie bei den bisherigen verwilderteren Ex-Militär-jetzt-Wildschwein-Wäldern. Sogar eine Fahrradfahrerin traute sich in diesen Abschnitt, die Stimmung war friedlich und wurde nur von Schwerlastern irgendwo in der Ferne gestört. Die begleiteten den Pilger aber nur auf einem kurzen Wegstück, das wegbereitend wurde für einen neuen interessanten Landschaftsausblick.
Der Forst wich Feldern mit gleichmäßigen Erdhügelreihen auf denen grüne zarte Pflänzchen verschiedener Wachstumsstadien wuchsen. Wer schon einen Blick auf die GPX-Karte geworfen hat, weiß Bescheid: Das waren erste Zeichen für Beelitz. Denn was Schrobenhausen für den Süden und Schwetzingen für den Westen, das ist Beelitz für den Nordosten: Spargel. Von einem Horizont zum anderen. Schwierig zu sagen wie viel. Wie viel Spargel braucht man für, sagen wir mal, 10 Millionen Menschen? Nehmen wir an, jeder Mensch im Nordosten isst pro Saison 3 kg Spargel, das wären 300.000.000 kg Spargel. Im Vergleich dazu hat der Mond hat eine Masse von 7,346 · 1022 kg. Würde man es nun schaffen, den Mond für den Spargelanbau zu nutzen… Aber ich schweife ab. Bemerkenswert war jedenfalls die Aufmerksamkeit und der Aufwand um das komplexe Pflege- und Bewässerungssystem, das die Feldern und Spargelreihen umgab. Kein Wunder dass der Spargel mindestens zehn Euro pro Kilo kostet. Ein Flug zum Mond kostet dagegen nur 1,3 Milliarden Euro. Würde man nun…
Beelitz, das offiziell den Zusatztitel »Spargelstadt« trägt (hiermit beantrage ich für München »Bierstadt«), war seit langem mal wieder ein ordentlicher Ort mit Dönerladen, Drogerie, Tankstelle und Heilstätte. Stempel abholen, Kirche bewundern, und ab zur Pension. Die war im Hochsommer sicher voll mit Touristen, wahrscheinlich würde ich im integrierten Restaurant gar nichts mehr zu essen bekommen, oder nur noch Pilgerreste.
Doch der Leser ahnts bereits: Trotz hoher Google-Maps-Wertung und UMTS-LTE-G5-Plus-Turbo-Internet konnte man die Gäste an einer Hand abzählen: Einer. Ich war allein. Da war nicht nur die Pensionsetage leer, sondern auch das eingebaute Restaurant mit 100 Plätzen, den ganzen Abend lang. Der Koch hatte Anwesenheitspflicht, und die Wings waren hervorragend. (Der Kleine nannte sie immer Festhaltefleisch — eine eigene Wortschöpfung, herrlich kreativ 🙂 ) Aber wieder mal gab es keine anderen Pilger, um Pilgerblasengeschichten auszutauschen. Schade.
Wenigstens war meine Wäsche inzwischen trocken geworden.
Wie würde es weitergehen auf dem Jakobsweg südlich von Beelitz?
Gab es dort Internet?
Und Strom?
Gab es überhaupt irgendwo andere Pilger außer mir?
Darüber schreibe ich in Teil 2: von Beelitz nach Wittenberg.
Buen Camino! 🙂