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Hintergrund zu diesem Jakobsweg, warum ich ihn empfehle und nicht empfehle, und wie man mit den herunterladbaren GPX-Dateien arbeitet, gibt es auf dieser Seite:
Hintergrund und GPX-Infos zum Jakobsweg Berlin ↦ Leipzig
(Dies ist der 3. Teil. Teil 1 / Teil 2 verpasst? Und hier die Rucksack-Packliste.)
Lutherstadt Wittenberg ↦ Kemberg-Bergwitz (Tag 8/11)
Jakobs-Kilometer: 14 km (brutto 19 km)
Wittenberg, der 2/3‑Punkt der Strecke, war die letzte große Stadt vor Leipzig. Der Glöcknerstift-Pilgerherbergen-Administrator warnte mich vor dem folgenden Weg mit den Worten
»Südlich von hier wird’s dünn. Restaurants, Supermärkte, da ist nicht viel. Decken Sie sich besser ein. Hier ist die Adresse eines Supermarkts in Wittenberg.«
Ich war auf das Schlimmste gefasst, eine Wüste, eine neue Eiszeit. Internet? Essen? Wasser? Ich besuchte tatsächlich den Wittenberger Supermarkt (100 Punkte für diejenigen, die ihn über meinen GPX-Kartenweg finden 🙂 ) und belud mich mit 3 zusätzlichen Nahrungsmittel-Kilogramm: Nüsse und andere fettige Snacks, koffeinhaltige Getränke und einen dieser superteuren Smoothies mit einer Monatsladung aller Vitamine komprimiert in 250 ml Flüssigkeit.
Kurz aber ganz angenehm war dieser erste Wüstenwanderabschnitt, zumindest nachdem man das erste Stück weiter an der von Berufsverkehr geplagten B2 geschafft hatte. Diesesmal, Gott sei Dank, MIT Fußweg.
Ganz ungfährlich ging es trotzdem nicht weiter. In den sachsen-anhältischen Wittenbergvororten lernte ich nämlich eine faszierende Besonderheit der Anwohner kennen: Nicht-asphaltierte Bürgersteige wurden von den Besitzern der anliegenden Grundstücke gerecht! Ja, Rechen im Sinne von »Furchenziehen für Saatgut«. Den Sand, auf dem nichts wächst. Auf Stadtboden, der nicht zum Grundstück gehörte. Auf Bürgersteigen, auf denen man in der Regel ging. Noch heute bin ich am Rätseln, warum das jemand tun sollte? Bürgersteige rechen. Und niemand, dendie ich bisher gefragt habe, wusste ein Lösung, alle hörten davon auch das erste Mal. Und es war nicht nur ein Grundstück…
Bewusst wurden mir diese Mandalas erst, als ich, wie Shiva, die Kunstwerke durch Darüberlaufen fahrlässig zerstörte. Wer rechnet auch damit, dass ein Bürger… egal. Zornige Eigenheimbesitzerrufe brachten mich dann in eine ebenso zornige Stimmung, die, wie das auf so Wanderwegen ist, mich für die nächsten zehn Kilometer gedanklich beschäftigten.
Zum Glück waren alle anderen Sachsen-Anhälter, auf die ich dem Rest des Tages traf, superfreundlich. Besonders die Älteren erinnerten sich wohl auch an ihre Wandertage und man grüßte sich unbekannterweise oder winkte mit der Hand (alte Tradition, um zu zeigen, dass man kein Sturmgewehr und keine Bazooka unter der Hand versteckte).
Auch der Weg lenkte mich von den fluchenden Bürgersteigrechern ab. Es ging über asphaltierte Fahrrad-Überlandwege, gemischt mit einigen Forstpassagen Richtung nördlicher Kante der Dübener Heide. Das ist die höchste Landerhöhung zwischen Berlin und Lepizig. Und da wurde der Geologe und Topologe in mir wach. Also doch keine Wüste — eher eine »Eiszeit«, eine Ex-Eiszeit :). Denn hier geht’s um das Thema Landschaftsformung durch Gletscher. Und dass die Erhöhung zwischen Elbe (Wittenberg, Norden) und Mulde (Leipzig, Süden) durch die Eiszeit entstand: Eine Endmoräne, wie die Dübener Heide, verursacht durch das Voranschieben und Stoppen von Gestein durch einen Gletscher. Und jetzt lief ich auf diese gestoppte Endgesteinsschicht zu.
Der Herbergen-Stopp davor: Ein kleiner Ort namens Bergwitz, ein Teil von Kemberg. Ein freundlicher Küster hatte mir ein Schlafsacklager versprochen. (Damals wusste ich noch nicht, dass »Schlafsacklager« trotzdem ein Bettgestell beinhaltet. Im Endeffekt schleppte ich 400g Isomatte nutzlos nach Leipzig. Aber »was nicht umbringt…«)
Kemberg lag genau nördlich vor der Dübener Heide, deren Überquerung meine längste Etappe sein sollte. Da ich in Wittenberg vorgewarnt wurde, erwartete ich nicht wirklich einen signifikanten Landschafts- und Proviantauffüllpunkt, so wie vielleicht Zagora, die berühmte Dattelpalmenoase in Marokko gleich neben der Sahara. Aber vielleicht wussten Wittenberger gar nicht, wie sich das Leben südlich der Elbe in den letzten 200 Jahren weiterentwickelt hatte? Denn die Überraschung war groß. Abseits von Kürbissen und Eiern von Privat am Straßenrand, gab es unweit meiner Pilgerherberge (evangelisches Freizeitheim hinter der Kirche) einen riesigen Supermarkt. Mit allem Drum und Dran und sogar Nahrungsmitteln. Prima, dann konnte ich mir die Großstadt-Ersatz-Erdnüsse für das Gletschertal am nächsten Tag aufheben.
In Bergwitz hatte Jakobus der Ältere noch eine Überraschung für mich. Der Apostel schickte mir den ersten einzigen echten Gläubigen (abseits des Pfarrers in Saarmund) in meinen Weg; einen Verwalter des Freizeitheims und Kirchgeländes, mit handwerklichen und verwalterischen Tätigkeiten und der Schlüsselorganisation beauftragt. Nach einigem Hin und Her öffnete er erst die Tür der Unterkunft, und dann sich selbst (erzählerisch), und er erkannte die Authentizität meiner Wallfahrt. Tatsächlich brachte ich ihm so viel Vertrauen entgegen, dass ich ihm meine ganze Geschichte über meine Mission und meine Hintergründe erzählte, während er mir die Kirche zeigte. Dort saßen wir zu zweit, sprachen über Gott und die Welt und klagten ein bisschen gegenseitig. Er betete für mich, und was er da betete musste und muss ich mir merken: Er betete nicht für ein langes Leben. Er betete, dass ich diese Welt zu einem Zeitpunkt verlassen sollte, zu dem ich Frieden mit meiner kniffligen Situation gefunden hätte. Oder dass ich mir den Zeitpuntk selbst aussuchen dürfte. Das fand ich außerordentlich raffiniert und weise, denn so blieb die Suche nach dem “richtigen” Ziel offen und meine Wallfahrt verlor nicht ihren Sinn, sondern wurde bestärkt.
Eine interessante Begegnung.
Kemberg-Bergwitz ↦ Bad Düben
(Tag 9/11)
Jakobs-Kilometer: 30 km (brutto 37 km)
Mücken. Mücken. Mücken. Aus Bergwitz Richtung Kemberg war ich besonders früh raus, weil mich die Mücken die ganze Nacht nicht schlafen ließen. Außerdem roch die Unterkunft nicht besonders gut, das Gebet vom Zuvornachmittag motivierte mich, und die bevorstehenden 30 km waren doch eine echte Herausforderung. Es standen sogar die ersten Höhenmeter an: fast 200! Booyakasha!
Während der letzte Abschnitt wanderungsweise ganz angenehm war, erwies sich dieser Weg als noch schöner und sogar etwas abenteuerlich. Grundsätzlich ging es einen Moränenhügel hinauf (Gestein, das ein Gletscher am Ende und den Rändern liegen lässt), dann wieder hinunter, und im südlich anschließenden Gletschertal straight Richtung Leipzig. Mit ein, zwei Zwischenschlafstopps, weil Gletscher eben groß sind und viel Land plattdrücken. Diese topologische Besonderheit machte den Weg für mich interessant.
Bis zur Hälfte der Moränenanhöhe schien alles wie ein kühler Voralpenwirtschaftsweg mit Banken für Pausen und kuriosen Grundstücken zu beiden Seiten, die Schrebergärten ähnelten. Eine Schnellstraßeüberquerung später landete ich auf einem Forstwirtschaftsweg, für Privatfahrzeuge gesperrt. Und hier war man schlagartig im sachsen-anhältischen Dschungel, der höher und höher führte und dessen Waldlandschaft wilder und wilder wurde.
Vom Forst zum dichten Mischwald auf immer schmaler und verschlungener werdenden Pfaden. Inklusive Wildschwein-Buddelspuren links und rechts, entsprechend begleitenden Wildschwein-im-Busch-Raschelgeräuschen und Amseln-imitieren-Wildschweine-Raschelgeräuschen. (Und inklusive aufgestellter Nackenhaare.) Aber ich hatte ja meinen Wanderstock dabei. Außerdem weiß man doch, dass Wildschweine eher scheu sind. — Wer also auf einem Waldjakobsweg einen laut vor sich hinbrabbelnden Alleinpilgerer sieht — das bin ich.
»Sooo, und ich rede jetzt ein bisschen extralaut mit mir selbst, damit Wildschweine im Umkreis von 500 m wissen, dass ich komme, la la la, und Reißaus nehmen, la la la, Psychologen hätten mit einem mit sich selbst brabbelnden Wanderer einen Heidenspaß, oh jetzt kommt aber ein steiler Anstieg, la la, und dahinter eine dunkle Waldecke, aber dahinter sieht man auch schon wieder Licht, la la la, kann man auch ein bisschen schneller gehen, oder sogar fast laufen la la la.«
Die höchste Stelle dieses Dübener Wanderwegs hatte ich mir vorab als GPX-Wegpunkt markiert, um sie ja nicht zu verpassen (Rastplatz Bauerhaus: N 51.69787, E 12.58029, https://goo.gl/maps/3HV2BsPvVVYrGRB26). Vor Ort machte der Original-Jakobsweg dann einen Knick nach links-Süden, aber…
Halt halt halt, nicht so schnell. Ein Bedürnis meldete sich. Eigentlich suchte ich nur eine Ecke, um mal um die Ecke gehen zu können. Aber siehe da, hinter solch einer Ecke lag eine große Lichtung mit einem Holzbankgestell für eine ausgewachsene Rast. Tolle Sache! Ich hatte ich seit einigen Stunden nichts gegessen, besser ging es nicht. Nach Ablegen des Rucksacks raschelte es jedoch in der 10 Meter entfernten Waldgrenze. Das konnte keine Amsel sein, das klang eher wie ein massives 150 kg schweres Säugetier. Oder doch wie eine Amsel, so sicher bin ich mir da nie.
Die 2‑Minuten-Pause war trotzdem entspannend. Denn bei jedem Ab- und Anlegen des Rucksack resettet man alle Gurte und passt die Rucksacklage an die aktuelle Körperhaltung an; die verändert sich ja im Laufe des Tages. Die ersten paar Meter zieht man dann an dem einen oder anderen Riemen, um alles perfekt zu…
Moment, was war das?
Ein Schild zu einer »Aussichtsgelegenheit«? Ein Blick auf die Offline-OSM-Karte zeigte, dass ich um ein Haar an der höchsten Stelle der Dübener Heide vorbeigelaufen wäre: die oder der oder das Hohe Gieck! Was man alles verpasst, wenn man stur dem Jakobsweg folgt.
Trotz der sportlichen Kilometerleistung des heutigen Tages erlaubte ich mir den kleinen Ostschlenker. Und nach eineinhalb Kilometer wurde ich prompt belohnt. Unweit des menschenleeren, wildschweinbevölkerten Ewokwalds befand sich eine massive Wasserwerkbaustelle mit Dutzenden Kanalarbeitern und 12-Tonnern und Baumaterial und Baumaschinen und entsprechendem Begleitlärm. Das Wasserwerk hatte die höchste Stelle des Minigebirges für sich gepachtet und entsprechend eingezäunt. Der Besuch der höchsten Stelle der Dübener Heide stellte sich tatsächlich als Pillepalle heraus. Ich hätte hier eine Ausflugsgasttätte errichtet und wäre jetzt schon reich, tja. Kein Wunder also, dass der offizielle Jakobsweg auf diesen Ausflugsschlenker verzichtet.
Mit jedem weiteren Kilometer abwärts in Richtung Leipziger Tieflandsbucht kamen vereinzelt Fahrradfahrer und Wandererpärchen dazu. Nach Überqueren der B2 (»Hello again«) befand ich mich in einem offiziellen Wochenendwander-Naherholungsgebiet. Da war die Wanderer- und Autos-parken-am-Straßenrand-Dichte auch entsprechend hoch. Nachdenklich stimmten mich jedoch große Schilder mit Warnungen. Wegen »Totholz« (ja, musste ich auch erstmal in der Wikipedia nachschlagen):
»Totholz! Lebensgefahr!« und
»Achtung, Gefahr für Leib und Leben!«
Nun hatte ich mir in den anfänglichen Pilgertagen eine Art Grundblindheit vor Betreten-verboten-Schildern angewöhnt. (»Angewöhnen müssen«, ich könnte die Sackgassen sonst nicht zählen, die ich hätte zurückgehen müssen.) Solche Verboten-Schilder galten ohnehin nur für motorisierte Fahrzeuge und wer zu Fuß von A nach B geht, vermeidet eben gerne 5‑km-Umwege und läuft dann einfach weiter.
So war mir Totholz in den ersten paar Minuten egal. Würde ich Totholz sehen, würde ich einfach schnell zur Seite auf Lebendholz springen. So geschah es aber, dass mein Wanderstock auf einer Totholzabkürzung (ich hatte den richtigen Weg mal wieder GPS-verpennt) gute 30 cm durch eine Totholzdecke hindurchstieß. Wäre das mein Fuß gewesen, tja, au weh, Beinbruch im Dschungel. So viel also zu den Facebook-Pilgergruppen-Meinungen, die meinen, einen Wanderstock dabeinzuhaben, wäre unnötiger Ballast. (Und denjenigen, die meinen, dass man keinesfalls abseits der offiziellen Wege akkürzen sollte…) Jedenfalls überlebte ich auch diesen Abschnitt, wenn auch knapp.
Bis Bad Düben, dem nächstgrößeren Ort mit noch unbekannter Infrastruktur, ging es über Feldwege mit Holzskulpturen (tatsächlich sehr beeindruckend — siehe Fotos), über die sächsisch-anhältisch-sächsische Grenze und über unendlich viele Kilometer nördliches Wohngebiets-Bad-Düben. Hier hatte ich die 30-km-Marke deutlich überschritten, füllte mein Trinkfläschchen auf einem Friedhof nahe Downtown mit Nachschubwasser und traf spätnachmittags an der Pilgerherberge nahe der Kirche ein.
Keine Überraschung: Ich war wieder allein. Diese Herberge war zwar noch nicht offiziell eröffnet, konnte aber schon auf persönliche Anfrage beim Owner genutzt werden (Mühlstraße 1, Mikesch). Es war tatsächlich die zauberhafteste, rustikalste und modernst eingerichtete Herberge, die man sich vorstellen kann. Die »unbekannte« Infrastruktur war ebenso üppig und einen kurzen Spaziergang entfernt. Zwei Supermärkte und Drogerien in der Nähe, Fernseher, Riesendusche, komplett ausgestattete Küche — das wurde mein erstes Steak-Dinner seit Jahren (na gut, Tagen). Natürlich blieb ich bei meinem neuem Lieblings-Besteck Göffel plus Minitaschenmesser, um den Luxus etwas pilgerhaft einzufärben.
Hatte ich erwähnt, dass das Pilgerlattenrost des Pilgerbetts elektrisch verstellbare Segmente hatte? Knopf an der Fernsteuerung drücken… bsmmmmmmmm — Rückensegment in 50°-Stellung. Perfekt zum Pilger-Handy-Surfen nach einem anstrengenden Pilgertag.
Ich ließ mir Zeit, den die morgige vorletzte Etappe war mal wieder pillepalle und ich könnte spät starten. Die 37 geschafften Kilometer zollten jedoch… doch.. schon… früh ihren… Tribut. Zzzz…
Bad Düben ↦ Wölkau (Tag 10/11)
Jakobs-Kilometer: 15 km (brutto 18 km)
So langsam fühlte ich das Ende dieser Reise. Das vorletzte Aufwachen und Aufstehen, der vorletzte morgendliche Sonnenaufgang, der vorletzte Spaziergang… Am vorletzten Tag ging es quer durch die Leipziger Tieflandsbucht, alles flach, von Horizont zu Horizont. Mildes Klima, ein bisschen zu heiß, aber angenehmes Wandern, jetzt im September. Mit einigen Ausnahmen natürlich: Ab und zu ging man den offiziellen Weg entlang an Landstraßen, ohne Fußwege aber mit schnellen und sehr knapp vorbeirasenden motorisierten Fahrzeugen. Vorsichtig weiter, immer schön den Autos ausweichen und bloss nicht über die riesigen Asphaltkanten stolpern. Wer überlegt sich denn so lebensgefährliche Straßenbeläge, die links und rechts 15 cm abschüssig sind?
Weil ich wenige Kilometer und viel Zeit hatte, trödelte ich. Das war nicht einfach, denn es gab fast nichts auf dem Weg, um Zeit zu vertrödeln.
- Doch, einmal ging mir das Wasser aus. Die vergangenen Tage erlernte ich den »Friedhofswasserblick«. Denn Friedhöfe haben meistens einen Trinkwassernaschluss — an diesen Tipp erinnerte ich mich von Fernwanderin Christine Türmer (Affiliate-Empfehlung zu ihrem Buch mit vielen Tipps: Weite Wege Wandern: Erfahrungen und Tipps von 45.000 Kilometern zu Fuß https://amzn.to/3jKyhkG). Abgesehen davon zeigte sogar die Open-Streets-Karte auf dem Krippehnaner Friedhof ein Wasserhan-Icon.
- Und Birnen fand ich auch noch am Straßenrand — mal besser eine mitnehmen.
- Und diese Heuballen da drüben sahen interessant aus! Geometrie. Licht. Strukturen. Eine Fotogelegenheit für das Metropolitan Museum of Arts!
Juhu, 10 Minuten vertrödelt.
So kam ich schon kurz nach High Noon in der kleinen 25€-Pension in Wölkau an. Da war freilich noch niemand, außer einer Bank im Innenhof. Also ließ ich mich nieder, belüftete die Füße, half der DHL beim Hundefutterausladen und erschreckte als staubiger Alleinwanderer die nach Hause kommenden Kinder. Unbeabsichtigt. Ansonsten war das Willkommenheißen sehr herzlich.
Allerdings traf jetzt das seit Tagen befürchtete Ereignis tatsächlich ein: Es gab hier nichts. Endlich war ich in der infrastrukturlosen Gletscherwüste angekommen. Keine Gastronomie, kein Supermarkt, nur ein paar Monteurbiere von der Vermieterin. Dementsprechend bestand mein Abendessen aus von Mönchen erfundenem flüssigem Brot, einem Päkchen Erdnüsse (ja, die aus Wittenberg) und der vorhin vom Straßenrand mitgenommenen Birne. Köstlich!! Jederzeit wieder!
Überraschenderweise machte sich die Anstrengung des Vortages nochmal bemerkbar und ich verbrachte erstaunlich viel Zeit mit Schlafen.
Wölkau ↦ Leipzig (letzter Tag 11/11)
Jakobs-Kilometer: 29 km (brutto 33 km)
Die letzte Etappe! Fast 30 km sah auf Papier dem Handy-Screen nach »sehr viel« aus, aber die immer dichter besiedelte Stadt und Stadtumgebung mit Vororten machte den Weg interessant. So dass sich die 30 km am Ende nur wie ungefähr 29 anfühlten. Kurios: Während all dieser Kilometer hielt ich Ausschau nach einem Leipziger Merkmal. Ein Bauwerk, von Menschenhand geschaffen, irgendwo downtown im Zentrum, auf das man die ganze Zeit zusteuern könnte. Von Berlin war ich so ein Bauwerk gewohnt — den auf dem zentralen Alexanderplatz montierten Fernsehturm, den man bei Föhn aus dem 250 km entfernten Rostock gut erkennen konnte. Wo waren denn die Leipziger Stadtschaftsmerkmale?
Und wie ich da so auf der Landstraße vor mich hin pilgerte und Ausschau hielt nach solch einem Leipziger Hingucker, passierte es!:
DER STURZ.
MIT BLUT.
Auf einer Straße zwischen den Vororten Mutschlena und Gottscheina, mit stark abschüssiger Feldseite, 15 cm hoher Asphaltkante und natürlich ohne Fußweg passierte der Sturz. Aus dem Polizeibericht:
Während ich nach Leipzig Ausschau hielt und über die Aussprache der Vororte rätselte, rutschte ich mit dem linken Fuß über die 15 cm hohe Asphaltkante, verlor das Gleichgewicht und schrammte mit dem gesamten Körper und 100 kg und 5 km/h Schub auf den Asphalt. Ergebnis: Ein der Länge nach fünffach gebrochener Oberschenkel, beidseitiger Miniskusriss, der komplette rechte Hand, die den Sturz (also die 100 beschleunigten kg) abzufangen versuchte, an zwanzig Gelenken gebrochen, Gehirnerschütterung, plus mehrere zentimetertiefe Fleischwunden an Arm und Bein. Krankenwagen!! Feuerwehr! Einseinsnull!!
So fühlte es sich zumindest die ersten fünf Minuten an.
Auf dem Zahnfleisch kroch ich den Straßenabhang nach unten aufs Feld, um noch Erde zum Blut zu mischen und mich vor den vorbeirasenden Autos zu schützen und eine erste Bewertung und Wundversorgung vorzunehmen. Tatsächliches Ergebnis: zwei geprellte Fingergelenke und flächige Hautabschürfungen am rechten Bein.
Sonst eigentlich nichts. Der flächige Oberhautverlust schmerzte im ersten Moment enorm, der Blutfleck war handtellergroß, nach ein paar Minuten war aber alles größtenteils wieder in Ordnung und belastbar. So ein großes Pflaster hatte ich freilich nicht dabei, aber dank Corona trug ich einen 5‑Liter-Kanister Desinfektionsmittel mit mir. So konnten die Abschürfungen wenigstens gemütlich an der Luft trocknen und heilen. Denn für Hilfe von außen war das eine Lapalie. Also auf und weiter, so wie das ein richtiger Hardcore-Pilger macht.
So was ungeschicktes auch.
Fünfzehn Kilometer vor dem Ziel.
Das tat der Motivation keineswegs einen Abbruch, im Gegenteil! Verwundet ins Ziel zu humpeln, na, wenn das nicht von echtem Kampfgeist kündet! Und der positive Nebeneffekt des blutender-Pilger-Auftretens in der hoffnungslos überfüllten und das Corona-Virus ignorierenden Innenstadt-Passanten Leipzigs: die Massen an Menschen gingen mir großräumig aus dem Weg. Denn Coronatröpfchen kann man zwar nicht sehen, aber die HIV-Angst der 80er sitzt noch tief in den Köpfen.
Und wenn es nicht das blutverschmierte Bein war, dann war es mein übriges Auftreten. Ich war doch schon etwas durch nach all den Kilometern, näherte mich der 300er-Marke. Der Rucksack hing verwahrlost schräg, Wäsche zum Trocknen flatterte am schiefen angeklemmten Regenschirm, aufgerissene Hose und Shirt hingen heraus, die (anfangs neuen) Trekking-Schuhe wirkten inwischen wie aus der Altkleidersammlung, und mein Krankheits-geplagtes rechtes Auge zuckte wie in einem Cartoonfilm. Wie bei diesem Anblick eine Mobilfunk-Marketingtante und ein Samariter auf die Idee kamen, mich überhaupt anzusprechen, ist mir bis heute ein Rätsel.
»Entschuldigung, Herr Wandersmann. Haben Sie vielleicht Interesse…«
»Grrrrr.. Tssssss tttstssss sssss!!!«
Ich zischte sie buchstäblich weg, wie eine Katze. Denn Durst, Hunger, Klo, ach Herrgott, langsam wollte ich ein Ende finden. Und vor der Unterkunft hatte ich noch ein klares Ziel vor Augen: die Nikolaikirche. Das echte Ende des Weges.
Durch das Tor der Nikolaikirche zu gehen war, wie eine andere Welt zu betreten. Aus der weltlichen überfüllten Sommerhitze-Einkaufspassage in die spirituelle, gewaltige und zierlich marmoriert, kühl religiös-bedeutungsschwangere Umgebung. Hier, am Ziel angekommen, verging die Zeit irgendwie anders.
Der Küster übte gerade Fugen. Die Kirchhalle war von gewaltigen Orgelklängen erfüllt. Ich setzte mich erschöpft von 33 km Wallfahren zwischen dem tosenden Orgelpfeifensound auf Platz Nr. 64 (2^5 — eine meiner Liebingszahlen) und lauschte dem machtvollen Klang mit den magenbrummenden Bässen und schrillen Hochtönen, das ganze akustische Spektrum ausfüllend, und, irgendwie, befriedigend, erlösend. Was für ein passendes Ende zum Ende dieses Jakobswegabschnitts.
Hierher war ich also gekommen, um Antworten auf Fragen zu erhalten? Oder besser formulierte Fragen?
Ach was, ich wollte einfach nur irgendeinen Zeiger in eine Richtung erhalten. Wie ich mit der Krankheit umgehen sollte. Mit meiner Familie. Mit meinem Tod. Mit der Kombination aus all dem. Ein Zeichen Gottes erleben, irgendwo hineininterpretieren, oder hören. Vielleicht würde es helfen, die Noten der vom Küster gespielten Lieder zu transkribieren? Etwas zwischen den Zeilen zu finden — vielleicht war die Musik der nächste Wegweiser?
Übernächste Woche war das nächste Gehirn-MRT. Da würde sich zeigen, ob die Metastasen weiter wuchsen, oder ob die Wallfahrtstherapie tatsächlich half. Aber eigentlich betraf mein Heilungsgelübde ja den gesamten Jakobsweg nach Santiago. Da bleiben noch einge Kilometer übrig.
Wer weiß, vielleicht würde ich den Rest meines Lebens brauchen, um diese Sntiago-Kilometer zu schaffen?
Das wäre schön.
Tschüß Via Imperii! War eine gemischte Erfahrung mit dir. Ich bin dich gegangen, und du bist hinter mir. Ich werde dich nicht vergessen, aber auch nicht vermissen.
Jetzt aber erstmal zurück nach Hause. Da wartet ein Dreijähriger und seine Mutter auf diese Geschichte :).
Moment, was geht denn da weiter Richtung Westen?
Oh. Hallo Via Regia!
Hintergrund zu diesem Jakobsweg, warum ich ihn empfehle und nicht empfehle, und wie man mit den herunterladbaren GPX-Dateien arbeitet, gibt es auf dieser Seite:
Hintergrund und GPX-Infos zum Jakobsweg Berlin ↦ Leipzig
(Dies ist der 3. Teil. Teil 1 / Teil 2 verpasst?
Und hier ist die begehrte Rucksack-Packliste.)