Corona-Risikogruppen sind nicht nur Ü60-Diabetiker mit Fettleber und Asthmalunge, das hat sich mittlerweile herumgesprochen. Ich gehöre auch dazu, obwohl ich erst 46 bin. Allerdings wurde ich vor drei Jahren (es ist gerade 2020) mit metastasiertem Hautkrebs im Endstadium diagnostiziert. Und bei Krebspatienten ist das Immunsystem so beschäftigt, dass die Symptomatik durchaus mit denen durch Corona verursachten vergleichbar ist. Noch schlimmer: Die Schäden werden durch die Kombination Krebs, Krebstherapie plus Corona deutlich vergrößert. So weit, dass Krebstherapien sogar nach hinten angestellt werden, um die Situation des Patienten missverständnisloser einschätzen zu können. Aber was, wenn die Krebstherapie lebensverlängernd wirken soll? Wenn es um Monate geht?
Moment, lohnt sich das überhaupt, ein Krebspatientenleben um Monate zu verlängern? Und das Intensive-Care-Unit-Bett zu besetzen, das bei jemand anderem viel mehr Sinn machen würde?
Als Risikogruppenfolge mache ich selbstverständlich um Corona einen Riesenbogen. Und um Menschen, die mit dem Thema allzu sorglos umgehen. Jens Spahn (Gesundheitsminister, November 2020) zählt übrigens 40% der deutsche Bevölkerung zu Risikogruppen.
Doch so einfach ist nicht. Zum Zeitpunkt der fatalen Diagnose habe ich einen gesunden Sohn bekommen. (Ich war anwesend und habe Daumen und Hände gedrückt.) Das war ebenso wundervoll wie dramatisch. Denn der Dreijährige will selbstverständlich nicht durch einen Lockdown isoliert werden, sondern auch soziale Erfahrungen machen. In Real Life (an der Hand-Auge-Konsolenfinger-Koordination arbeiten wir noch 🙂 ). Und ein bisschen arbeiten müssen wir zum Lebenerhalten und ‑bezahlen auch noch. Für all diese Szenarien gibt es die Kita, eine äußerst praktische Einrichtung, aber auch eine äußerst riskante.
Denn die Kita kommt wegen der Kohortenvermischung als weitere Variable in die komplexe Überlebensrechnung. Dabei ist das Leben als Stadium-4-Krebsi schon anstrengend genug. Der Wettlauf zwischen Therapien und Metastasen ist ja schon verloren. Sind erst mal Metastasen im Gehirn, geht es im Normalfall um Monate. Sie sind das buchstäblich gewordene tödliche Damoklesschwert, mit akkumulierenden Nebenwirkungen vom Feind übernommener oder abgestorbener Hirnareale: Übelkeit, Schwindel, Fatigue, Vergesslichkeit, Aggressivität, Persönlichkeits- und Wahrnehmungsänderungen und der frustrierende Konzentrationsverlust während meiner Arbeit als Autor und Blogger (8BitPapa, https://richard-eisenmenger.com). Dann die Angst um weiteren Metastasenwachstums, über den ganzen Körper verteilt — mandarinengroße Beulen überall! Ab und zu erwischt mich die emotionale Angespanntheit der Situation, und ich verkneife mir die spontanen Tränen, wenn ich mit dem Junior Bauklötze stapele und wir uns gemeinsam über den bisher allerallerhöchsten Legoturm freuen. Gekrönt wird das alles von der Angst vor dem Nichtmehrexistieren; den Kleinen und meine Frau bald nicht mehr zu sehen. Nie mehr.
Willkommen im Leben einer Risikogruppe.
Klar gehen Risikogruppen um keinen Preis auf Corona-Partys und zu Anti-Corona-Demos. Das sind nur Events für Querdenker und Pandemieleugner und Menschen, die Verdacht gegen Zahlen, Messmethoden, Maßnahmen und ihre Legitimierung hegen. Genau wie Impfgegner gefährden sie dabei nicht nur sich selbst (dafür gibt’s den Darwin-Award), sondern auch ihre Mitmenschen. Wenn ich die Bilder der Versammlungen und Ausschreitungen sehe, glaube ich im Mittelalter zu leben.
Ruhig. Ganz ruhig. Und weiteratmen.
Gegen Corona und die Verbreitung der Krankheit wurden inzwischen verlangsamende Maßnahmen getroffen. Selbst einige auf den ersten Blick sinnlose, auf den zweiten Blick aber verständliche, wenn man darüber nachdenkt, wie und wer das Virus verbreitet. Vielleicht ist einfach nicht jedem klar, wie viele Mitglieder von Risikogruppen es tatsächlich gibt? Und dass der Virusausbruch mehr bedeutet, als zuhause zu bleiben, Netflix gucken und gelegentlich einen netten Spaziergang mit seinenihren zwei drei Kerngruppen zu machen? Zum Beispiel Arzt- und Therapietermine, im Grunde besorgniserregende aber unvermeidbare Gruppenversammlungen. Und da geht es durchaus um überlebenswichtige Entscheidungen. Erst letzte Woche musste ich für einen Diagnostiktermin nach Hamburg, denn in Berlin war kein Termin mehr zu bekommen (, genausowenig für eine Grippeimpfung, die überall empfohlen wird, aber kein Arzt hat die notwendigen Medikamentenreserven). Eigentlich ein kurzer Ausflug von Berlin aus, aber nun? Mit dem Zug? Das ist doch Selbstmord?! Besser Mietauto? Kind mitnehmen? Oder passen die Großeltern auf den Kleinen auf? Ah, halt, um Himmels Willen, sie sind ja ebenfalls eine Risikogruppe.
Als Risikogruppe hört der Gedanken- und Sorgenstrudel nicht auf. Denn die Bilder von künstlich komatisierten, auf dem Bauch liegenden, die Hölle durchmarschierenden und dann am Ende doch sterbenden Patienten haben sich in unser tumorzerfressenes Gehirn eingebrannt. Freilich gibt es in der Apotheke ordentliche Schlangen mit 2‑m-Abstand. Aber im Supermarkt nebenan rempelt man wieder auf Tuchfühlung mit anderen Menschen durch die schmalen Gänge. Sollte ich meine Frau vorschicken und sie danach auf dem Hausflur mit Desinfektionsmittel abbrausen? Sie ist ohnehin gestresst durch die Home-Office/Privat-zuhause-Vermischung und könnte die Abkühlung gebrauchen. Moment, wie desinfizieren wir überhaupt die Lebensmittelverpackungen? Sind Lieferpizzakartons eigentlich kontaminiert? Sterben Corona-Viren bei 60°? Haben Amazon-Kartons eine Oberfläche, auf denen das Virus bis zu 24 Stunden überlebt? Oder nur, wenn jemand darauf hustet? Am besten doch alles zusperren und Nudeln und Klopapier essen.
Wenn’s dann doch passiert und die Intensivbetten knapp werden?
Sollte ich mich besser sofort auf einer Corona-Party oder Corona-Demo oder bei Präsidentenwahlen mit Corona infizieren, um noch schnell ein Intensivbett abzukommen? Ganz schön asozial. Und was, wenn der Arzt dann vor der Entscheidung stünde, mich an die Beatmung anzuschließen? Oder ist das Intensivbett nicht besser aufgehoben für jemanden mit höherer (längerer) Lebens- und Papaseinerwartung?
Gegen diese Sorgen hilft nur Hoffnung, dass die Situation kontrollierbar wird. Da sind wir beim berühmten Flachhalten der Kurve, der Einschränkung einiger Freiheitsrechte, aber eigentlich, viel wichtiger, dem Vorbereiten auf eine lange Zeit des Durchhaltens. Dabei haben wir doch eigentlich Glück! Corona hätte eine noch höhere Ansteckungs- oder Sterblichkeitsrate haben können. Science-Fiction-Autoren bereiten uns seit Jahrzehnten auf das Armageddon-Szenario vor. Die Heilung vor dem Supervirus ist dabei genauso unrealistisch, wie die von Krebs im Endstadium. Nur ein paar andere Zahlen.
Es bleiben die Aspekte, über die wir tatsächlich Kontrolle haben. Dinge, die wir ändern können, um die Situation zu beeinflussen, zu verbessern. Für mich heißt das, mich auf meinen Sohn zu konzentrieren. Nicht an das Ende zu denken. Mich auf den nächsten Tag, den nächsten Morgen, das nächste Kinderlächeln zu freuen. Das ist oft sehr schwierig.
Beispielgrund zu leben: Pizza … und Pasta
Auch bei Corona gibt es diese Entscheidungsräume, um mehr Kontrolle auszuleben. Ich bedanke mich bei jedem, der die Krise ernst nimmt und entsprechend agiert. Vielleicht ist es am Ende nur eine Supergrippe. Aber so sicher kann sich keiner sein. Bislang wissen wir ja bereits, dass es auch diejenigen mit fittem Immunsystem und ohne fatale Vorkrankheiten erwischt.
Danke für die Rücksichtnahme, die Leben retten wird. Meines und das vieler anderer Risikogruppen. Ich wünsche allen ganz viel Kraft in dieser Zeit, und den Risikogruppen noch ganz viel Zeit dieses Leben zu leben.
8bp