Dieses Gedankenspiel beginnt samstagmorgens irgendwann zwischen 8 und 10 Uhr, wenn sich meine bessere Hälfte einen Himbeerpfefferminzshake zubereitet. Da werden gefrorene Himbeeren und Eiswürfel in den Smoothie-Mixer geworfen und per Knopfdruck zerhackt, was wie das Strahltriebwerk eines 400-Tonnen-Düsenjets klingt. Egal in welchem Bereich der Wohnung ich mich gerade aufhalte: Der Lärm ist so markerschütternd, dass ich wie eine Katze mit Staubsaugerphobie das Weite suche, also in die entfernteste Ecke der Wohnung sprinte, um da irgendetwas aufzuräumen oder so zu tun. Ich denke mir dann immer: Das arme Kind. Im Bauch. 5 cm Luftlinie vom startenden Space Shuttle entfernt. Schon mal von einer Kreissäge neben dem Ohr geweckt worden?
Dann lege ich mir die Hände auf die Ohren und erinnere mich, wie es ganz früher war, in der Badewanne langsam unter Wasser zu gleiten und wie ich dann nichts Verständliches mehr von der Pumuckl-Kassette hörte. So muss alles klingen, was meinen Sohn da im Bauch akustisch erreicht. So wie in »Star Trek IV – Zurück in die Gegenwart«, als die Enterprise-Crew ein außerirdisches Signal dechiffriert, indem sie einen Audiofilter darüberlegt. Sie stellen fest, dass es sich bei der Alienmelodie um an Buckelwale gerichteten Walgesang handelt, nur nicht unter Wasser abgespielt. Wäre es nicht toll, einen Audiofilter auf dem Telefon zu haben, der genau das Umgekehrte macht?! Dann könnte ich endlich eine Botschaft an meinen Sohn aufnehmen, z. B.
»Mit vereinten Kräften können wir diesen tödlichen Konflikt beenden und der Galaxis Frieden und Ordnung wiedergeben.«
Durch den Filter jagen und, das Smartphone gegen den Babybauch gedrückt, abspielen. Und der kleine Floh würde meine wahre Stimme hören, so wie sie wirklich klingt.
Diesen Audiofilter habe ich bislang noch nicht gefunden, obwohl ich davon überzeugt bin, dass es im Internet alles gibt. (Wenn jemand über das passende Tool stolpert, bitte Bescheid geben. Die komischen »Bellybuds« machen das jedenfalls nicht.) Das Baby könnte sich so viel früher an die echten Stimmen gewöhnen. Und, wer weiß, sogar kognitiv lernen, weil es ja mehr Nuancen wahrnimmt als vom sonstigen Durch-die-Bauchdecke-Gemuffel.
Denn was hört es das Ungeborene sonst den lieben langen Tag?
Ein Test: Kopf auf den Bauch des Partners legen und konzentriert lauschen. Am besten nach dem Abendessen. Da gluckert, blubbert, pfeift und rauscht es. Manchmal klingt es, als zünde jemand da drin eine Feuerwerksrakete und manchmal rumpelt es, als führe ein 12-Tonner über Kopfsteinpflaster. (Die spannendste Geräuschkulisse entsteht sicher nach dem Verzehr von rohem Fleisch und Hülsenfrüchten und kohlensäurehaltigen Erfrischungsgetränken. Für eine Extraportion Groove presse ich meine Lippen gegen den Bauch und singe meine beste Yello-Impression »Ooouuhh Yeahhh«.) Jetzt stellen wir uns mal vor, dass wir diese Geräusche die ganze Zeit um uns herum hören. Das arme Kind?
Meine Theorie: Was für die einen wie eine Whiskey-Distillerie klingt, ist für anderen Musik. Denn: Denkt man sich das regelmäßige Pochen des Mutterherzens hinzu, ist es nicht denkbar, dass diese gesamte Geräuschkulisse den konzeptionellen Ansatz ursprünglicher Musik bildet? Das erklärte warum wir Musik gerenell mögen oder mögen gelernt haben? Neun Monate Mother-Beat gepaart mit komplexen Verdauungsgeräuschen in verschiedenen Frequenzbereichen – wenn das nicht konditioniert, heiße ich Bach.
Eine weitere vorbäuchige Geräuschquelle nimmt mir ebenfalls wunder. Zur musikalischen Förderung unseres Baldgeborenen haben wir beschlossen, unsere alten Instrumentalfertigkeiten auszugraben. So dass wir bereit sind, mit dem Nachwuchs zu musizieren sobald er da ist, so richtig old-school, um ihn vielleicht für ein eigenes Instrumentenspiel zu begeistern. Genauer gesagt, lasse ich die Blockflöte aus meinen Sturm-und-Drang-Jahren auf dem Speicher und lerne auf einem kleinen E‑Piano Klavier, nur eben nicht so schnell (das klingt dann so: MP3-Test). Und meine bessere Hälfte entstaubt und stimmt ihre alte Wanderguitarre regelmäßig, um den einen oder anderen Song von Cat Stevens oder Neil Young anzuspielen.
»Schatz, ich geh mal ein bisschen nach hinten mit der Guitarre.«
»Ui, Neil-Diamond-Guitarrenspiel, kann ich mitkommen?«
»Öhm. Nein.«
Wie mag sich das klangphysikalisch verhalten, wenn der Guitarrenkorpus auf dem Mutterkorpus liegt, die Mutter die angestaubten Akkorde zupft und die Schwingungen durch den direkten Kontakt übertragen werden? Kann eine ganze Gebärmutter inklusive Treibgut in G‑Moll mitschwingen? Hört der kleine Knopf etwa Melodien? Ist etwas dran an der Mozart-macht-Bundeskanzler-Bauchmusiktheorie?
Hier ist was wir wirklich aufgrund aktueller Studien wissen. (Dies ist keine Dissertation, darum spare ich mir die Quellenangaben.)
- Wenn die Mutter spricht, schlägt das Baby-Herz langsamer. Die Stimme beruhigt.
- Wird das Baby geboren, erkennt es die Mutterstimme.
- Väter, Arbeitskollegen, Geschwister werden nicht wiedererkannt, vermutlich, weil da im Inneren noch deutlich mehr Organe und Knochen mitschwingen, wenn die Mutter ihre Stimme erhebt.
- Nach der Geburt bevorzugen Babys die Klangmelodie der Sprache, die sie im Uterus gehört haben.
- Der Mozart-Effekt, schlauer werden durch Lauschen der »Sonate für zwei Klaviere in D‑Dur«, Köchelverzeichnis 448, ist eine jener bedauerlichen Studien, die nicht erfolgreich repliziert werden konnte. (Erstaunlich, wie hartnäckig und langlebig solches Folklore-Wissen ist: Die Studie ist von 1993.)
Sieh mal an. Der ganze Schnickschnack mit der Musikbeschallung und sich an Daddys Stimme gewöhnen ist mehr oder weniger Unsinn.
Ein Experiment einer Forschungsgruppe vom Institut Marques in Barcelona finde ich besonders spannend. Die haben einen Dildo, der einem Lollipop ähnelt, mit einem Lautsprecher und USB-Anschluss ausgestattet. Einmal eingeführt ist die so gespielte Musik um einiges näher am Baby, die Baby-Reaktion lässt sich im Vergleich zu »Bauchhörern« sogar messen. Per Ultraschall wurde gefilmt, wie die auf diese Weise beschallten Ungeborenen ihren Mund öffnen und die Zunge herausstrecken. Als würden sie mitsingen. Tolle Sache!
Aber jetzt sehen wir uns nochmal ganz genau das Video dazu an und interpretieren die Baby-Artikulation mit gesundem Menschenverstand. Die schreien in Panik! »Stell das ab!«, »Habt ihr nen Vogel?«, »Ich will meine Ruh’!« und »Waaahhh!« (Wer dennoch neugierig ist, surft hier weiter: https://babypod.net/de/)
Da kann ich meiner besseren Hälfte beim besten Willen nichts vorwerfen. Sicher klingt der Smoothie-Mixer wie eine Mischung aus Presslufthammer, Schleifmaschine und Sägewerk. Und, ja, wahrscheinlich konditioniert sie unseren kleinen Floh nun auf Trash-Metal-Musik, denn von so vielen Dezibel muss ja er ja doch etwas wahrnehmen. Aber sie handelt aus Verzweiflung, denn der schönste Teil des Sommers wird vorüber sein, wenn sie wieder einen erfrischenden leise gemixten Hugo genießen darf. — Jedenfalls haben wir nun weniger Skrupel vor möglicherweise problamtischen Geräuschkulissen. So können wir auch mal wieder ein Actionabenteuer à la »Uncharted« oder »Lara Croft« einlegen, wo man eben doch mal ab und zu ein Dutzend Böse vor die Flinte bekommt. Und auch »Gotham« und »Fargo« dürfenwir endlich weitergucken.
Jedenfalls noch einen Monat lang.