Ich liebe Anleitungen und hasse Tutorials. Tutorials laufen in meinem Kopf in Zeitlupe ab und lähmen alle Synapsen bis zur Nahtoderfahrung, während ab und zu eine tatsächlich interessante Information vorbeitröpfelt. Deshalb überspringe ich Tutorials in Spielen und bewege mich in YouTube-Videos in 20-Sekunden-Abständen maustastenklickend weiter. Bei Anleitungen dagegen picke ich mir die wesentlichen Informationen selber heraus und finde Details, die einem Tutor unwichtig waren. Bei meinem letzten Gebrauchten entdeckte ich so an einem kalten Wintermorgen spontan die Sitzheizung; die Garzeitenliste des Dämpfers ist für mich die Bibel, denn sie stimmt wirklich; und unser neuer Waschtrockner hat eine Kindersicherung, oh wie praktisch, und die Anleitung ist sogar verständlich geschrieben.
Ein Geburtsvorbereitungskurs ist ein Tutorial, aber schlimmer noch, ein theoretisches. Die Aussicht auf zwei Tage Zuhören und Abnicken (gibt’s in der Regel auch als Abend- oder Crashkurs) entsprach der Vorfreude auf einen Langstreckenflug in der Holzklasse. Jedoch mit zwei Lichtblicken: Natürlich war meine bessere Hälfte dabei und wir haben nahezu identische Aufmerksamkeitsdefizite und Geduldspolster. Und, der Tutor – das war unsere Hebamme, über deren Existenz und Wochenbettbegleitungszusage wir uns angesichts der aktuellen Hebammensituation immer noch freuen wie Schneekönige. Spannend also, was auf dem Programm für immerhin zusätzliche 90 Euro (für den Partner) stand. (Zahlt die Krankenkasse nicht, weil sie davon ausgeht, dass sich ausschließlich Solo-Mütter auf die Geburt vorbereiten müssen/sollen/dürfen.)
Also spoilerte ich mich ausnahmsweise nicht mit YouTube-Videos, bevor wir die Hebammenpraxis im tiefsten Prenzlauer Berg aufsuchten. Eine unheimliche Gegend, wo Männer Leggings und ZZ-Top-Bärte tragen und Yoga-Studios so großzügig gesät sind wie Ampelmännchen-Shops in Mitte oder Casinos im Wedding. Und vor Ort – tatsächlich: Schuhe ausziehen, Hinterzimmer mit Parkett, Latexmatten, Yoga-Sitzkissen, Tee und Nüsschen (aber auch Schokolade), alles auf dem Fußboden. Schwangerschaft und Yoga gehören nämlich zusammen wie Batman und Robin, Spargel und Sauce Hollandaise, und BILLY und LACK. Meine Knie und mein Rücken jammerten in Vorfreude auf den erdnahen Aufenthalt während der nächsten zwei Kurstage.
Wir waren drei Paare, denn – isn’t it ironic – das Baby des vierten Paares war ebenfalls Tutorialhasser und entschied sich vorher auszusteigen, buchstäblich. Eine übersichtliche Gruppe, in der genug Zeit für individuelle Fragen war, z. B.
- »Was sind eigentlich Wehen?« (Von Mutterhormonen ausgehende Muskelkontraktionen, die das Baby »austreiben«. Wie wenn man aufs Klo geht.)
- »Warum erhalte ich Google-Anzeigen für Puckdecken?« (Pucken ist wirklich ein Ding und identisch zum Einmummeln bei größeren Menschen. Babys werden wohl gerne gepuckt und sind gepuckt ruhiger und zufriedener als ungepuckt, sagt man. Spezielle Puckschlafsäcke braucht man aber nicht, eine Decke tut’s auch. )
- »Wo kann man hier lecker zu Mittag essen?« (Nicht in diesem einen Bio-Sandwich-Laden, in dem wir 4 Euro für ein Billig-Auftau-Minibaguette mit einer Schreibe Tomate und Gouda zahlten, das zwei Stunden lang Sodbrennen verursachte.)
Na gut, nun mal alle Misantropie und Griesgrämigkeit beiseite, so uninteressant war der Kurs tatsächlich nicht. Auch wenn ich das Gefühl hatte, dass einer der Baldväter im Kopf Sudokurätsel löste oder subatomare Partikel im Fußboden zählte.
Stellte sich nämlich noch Folgendes heraus – ich fasse zusammen:
- Das Ganze dauert lange, mit fünf bis zehn Stunden muss man rechnen. (Nicht der Kurs, die Geburt. Der Kurs geht meist über Samstag und Sonntag Vormittag bis später Nachmittag. Also eigentlich so lange wie eine Geburt.)
- Wenn die Wehen kommen oder irgendetwas platzt, hat man genug Zeit, in Ruhe zum Geburtsort der Wahl zu kommen. Hollywood-Taxigeburten und laufende und dabei trottelig ihren Bauch haltende Comedy-Schwangere sind Unsinn.
- Es gibt drei bis vier »Stellungen«, bei denen man als Partner die gebärende Frau unterstützen kann, z. B. die beiden Arme wie ein menschliches Reck unter ihre Ackseln positionierend – zum Abstützen. Wie viele Stunden ich das aushalte, stelle ich in Frage.
- Es gibt keine Kantine in der Nähe von Kreißsälen. Männer sollen sich Nahrung mitnehmen. Frauen werden keinen Appetit haben.
- Vorsicht vor manchen Frauenärzten, die Toxoplasmose- und CTG-Tests durchführen, die ggf. nicht notwendig sind.
- Das Baby kommt mit dem Kopf voraus und dreht sich während der Geburt korkenzieherartig. Dabei bricht es der armen Mutter das Steißbein und schiebt sich zur Schädelverkleinerung die Schädelplatten übereinander. Wie bei tektonischen Plattenbewegungen, nur ohne Vulkane und Pierce Brosnan.
- Kommt das Baby nicht mit dem Kopf voraus, ist das erst mal doof. Mit den Füßen voraus geburtet es sich schlecht, weil alles irgendwie verhakt. Zur Not wird der Mutterbauch aufgeschnitten, das Kind herausgepult und Caesar genannt.
- Es gibt keinen Zusammenhang zum Caesar Salad.
»Ein Geburtsvorbereitungswas? Bei uns gab’s des nich‘. Braucht man das?« höre ich die zukünftige Oma zweifeln. Ich denke, der Kurs ist kein »Must-«, aber ein »Should-have«. So stand für mich vor allem die Entmystifizierung des Geburtsvorgangs im Vordergrund. Bislang stellte ich mir die Mutter movie-like auf einem Gynäkologenliegestuhl vor, um den pausenlos Ärzte herumtanzten und »pressen« und »atmen« riefen. Stattdessen hängt man ein paar Stunden in einer Art Studioapartment mit Fetischeinrichtung ab. Die Frau setzt und legt sich in verschiedene Posen und Lagen, wie es eben am komfortabelsten und schmerzfreiesten ist. Der Vater in spe, man liest ja immer wie hilfs- und nutzlos er in dieser speziellen Situation ist, spielt am Handy Scrabble. Fünf Stunden lang.
Nein, da muss ich mir etwas Sinnvolleres überlegen. Vielleicht etwas basteln, irgendein Modell von Metal Earth. Oder, oh, ich hab’s: ein Live-Blog! Ein wirklich wirklich langweiliger Zehn-Stunden-und-nichts-passiert-Live-Blog, wie diese künftigen Liveticker-Meldungen beweisen:
»Sie liegt nun auf dem Bett in der Draw-me-like-one-of-your-french-girls-Pose.«
»Ich bin schuld, dass die Fruchtblase geplatzt ist.«
»Mein Handy hat keinen Strom mehr und ich habe das USB-Ladekabel vergessen.«
»Wir sind nun schon eine halbe Stunde da und ich habe die letzte Stulle gegessen. Panik.«
»USB-Kabel von zu Hause geholt. Dabei noch ein paar Wiener mit Kartoffelsalat gegessen und ein Brot mit Blauschimmelkäse und ein paar Gummibärchen für die Frau mitgenommen.«
»Sie umklammert nun das von der Decke hängende Tau, ein bisschen wie Miley Cyrus in diesem Wrecking-Ball-Video.«
»Jetzt ist der Muttermund 10 Zentimeter geöffnet, es geht los.«
»Man kann den Schädel sehen.«
»Habe das Käsebrot verputzt.«
»Immer noch nur der Schädel.«
»Ich bin schuld an dieser Misere.«
»Stagnation. Rien ne va plus. Er scheint sich’s anders zu überlegen.«
»Mit dem Wort ‚XYLOPHON‘ erreiche ich einen neuen Scrabble-Highscore.«
»Na endlich. Gott ist der süß. Ach, so weich sind die Schädelplatten?«
»Man fragt mich, ob ich die Nabelschnur durchschneiden möchte. Nein! Warum zum Teufel sollte ich das machen wollen? Gibt es wirklich Männer, bei denen das auf der Bucketlist steht? Sehe ich aus wie ein Nabelschnurdurchschneidefetischist? Schneidet sie doch selber durch, ihr wisst ja wenigstens, wie das geht.«
»Aha, so sieht also die Plazenta aus, die Nachgeburt, so so. Nein, ich will sie nicht mit nach Hause nehmen und im Garten vergraben. Wir haben gar keinen eigenen Garten und im Mietvertrag unserer Mietshauswohnung ist Plazenta-im-Garten-vergraben als Kündigungsgrund vermerkt.«
»Sie packen den Kleinen wie ein Geschenk ein und rufen uns ein Taxi.«
»Der Taxifahrer will uns nicht fahren, da wir keine Babyschale haben. Ich bin schuld, dass wir keine Babyschale haben. Wir nehmen den Bus.«
»Ich bin schuld, dass wir in einem Haus ohne Lift wohnen.«
Die Vorfreude wächst, noch zwei Monate.