Wir sind in Mitteleuropa, es ist der 11.11. Was macht man da als pflichtbewusste Eltern? Man spaziert im Dämmerlicht los, holt den Kleinen mit einer kunterbunten Laterne aus der Kita ab und schreitet wohlgemut 150 anderen Elternkinderpärchen hinterher. Das Ziel: In schamanistischen Ritualen der Herbstkälte zu trotzen und einem mysteriösen, vielerorts hoch geehrten »Martin von Tours« zu huldigen – im berühmten Sankt-Martins-Lauf, den jedes Elternkinderpärchen exakt drei Mal durchsteht. Das erste Mal hat das Kind keine Ahnung, was passiert, und es ist hauptsächlich damit beschäftigt die Lampe zu balancieren. Das zweite Jahr macht es Spaß mit normaler Geschwindigkeit und gut durchdachtem Proviant – inklusive Glühwein für die Eltern. Und das dritte Jahr ist es leider nur langweilig und kalt.
Dieser ganze Aufwand für den »Begründer des abendländischen Mönchtums und den dritten Bischof von Tours in Ungarn«, irgendwann vor 1600 Jahren? Wo liegt Tours überhaupt – ist das vielleicht sogar ein Urlaubsgeheimtipp?
Der jährliche Spaß begann freilich schon vor der Tour. Klar hängt das Sankt-Martins-Lauf-Schild schon seit vier Wochen aus: Treffen und Losgehen um 16 Uhr. Das ist recht eindeutig und impliziert, dass man eine Viertelstunde vorher da ist, um den Nachwuchs abzuholen und anzuziehen (eine Dreiviertelstunde vorher bei Terrible-Two-Kindern). Zu Terminen im Finanzamt und beim Standesamt und bei der Kinderärztin schaffen es Eltern ja auch – wieso also nicht in diesem Fall?
Das Ergebnis der zusätzlichen halben Stunde, bis sich wirklich alle zusammengerauft hatten: Die Pünktlichen hatten das Nachsehen und kalte Füße; die Kinder powerten sich bereits jetzt aus. Idealerweise, denn das ist der erweiterte Schwierigkeitsgrad an den bekannten Spielgeräten im Garten, demolierten sie sich noch die Laternen. Dabei sind die verschiedenen Formen und Farben doch wichtige Entscheidungsmerkmale auf die Ferne. (Denn offenbar hatten so einige Eltern beim plötzlichen Temperatursturz von einer Woche das gleiche Gelbe-Kinderjacken-Sonderangebot genutzt wie wir.) Aber ist ja alles schnell repariert, denn wer vergisst schon für solch einen Event Gaffa-Band und eine Dose Schmieröl? (Werbe-Hinweis: Jede Wette, in diesem Augenblick erinnern Sie sich, dass sowohl Panzerband als auch WD40 aus sind.)
Bis jetzt, halb 5, war die ganze Aufregung für unseren Kleinen nichts weiter als das Ende eines lustigen Kita-Nachmittags mit Ziel Nachhause. Dabei ging es doch erst richtig los. Im Gänsemarsch bewegte sich der Pulk aus dem Gelände, über schmale Gehwege, an Kneipen und Bäckereien und Bordellen vorbei, auf einen kleinen Park — ein sehr breiter bewaldeter Grünstreifen einer wenig befahrenen Straße. Hier wollte man auf keinen Fall alleine hin, wenn es dunkel wurde, aber zu 150st ist das freilich etwas anderes – in der Mitte des Grünstreifens war schließlich der Sankt-Martins-Singsangtreffpunkt der Nachbarschaft.
Unser kleiner Yellowjacket schaffte den ganzen Weg munter zu Fuß, anfangs an der Spitze, zum Ende am Ende, denn immer nur Gehen und Gehen, wo sollte das hier überhaupt hinführen? Er schöpfte keinen Verdacht auf einen längeren Event und summte die Begleitmelodien immer fröhlich mit. Nach einer halben Stunde »Laterne, Laterne« verlor er allerdings langsam die Konzentration und fragte uns, wo denn nun Suhause wäre?
Als sich nun die gesammelte Kitamannschaft an einem Basketball-Platz enger im Kreis aufstellte, zum zweiten Novemberhit »Ich geh mit meiner Laterne« wechselte, wurden neue Energien wach: immer und immer wieder sang er dieselbe Strophe und arbeitete dabei in kreativer Weise Weihnachts- und Geburtstagslieder mit ein. Stolze siebzehn Strophen hielt er durch, wedelte mit seiner Laterne und seine Laterne mit ihm.
Schließlich war »mein Licht aus« und das Ende in Sicht, es wurde leiser auf dem Platz. Wenige Minuten später verteilten sich seine Kitakommilitonen schon in alle Richtungen, während der harte Kern, da zählten wir uns dazu, zum nächsten Level weiterflanierte: Zu einer für den Sankt-Martins-Anlass hergerichteten Kirche – einem Gebäude, in dessen Inneren es zu all unserer Überraschung nicht wärmer war als draußen. (Außerdem lag sie auf unserem Heimweg.) Da spielten einige Leute Musik, andere saßen nur herum und wieder andere redeten vorne an einem Pult. Es wurde spannend, denn hier geschah das Highlight des Abends — die Sprecherin am Pult transportierte die Message des gesamten Happenings:
Martin, ein Soldat der kaiserlichen Garde, begegnete im Winter 334 am Stadttor von Amiens einem armen unbekleideten Mann (sicher eine Seltenheit in jenen Tagen). Pech für den Bettler: Außer Schlachtross, Sattel, dicker Reitdecke und dem Soldatenpanzer hatte der Soldat nur einen dünnen Überwurfmantel aus Schaffell dabei. Den teile er mit seinem Schwert inzwei (ob längs oder diagonal ist unbekannt) und gab eine Hälfte dem Armen. (WARUM? War Martin in der Rüstung zu kalt?) Der freute sich wie ein Schnitzel, und das wiederum gefiel Jesus von Nazareth, der seinerzeit nur noch in Träumen erschien, so gut, dass er Martin zu einem Jünger ernannte. So sagt man jedenfalls, denn die ersten Aufzeichnungen entstanden 70 Jahre später, zu dem Zeitpunkt also, als nur noch Martin selbst Erinnerungen an die Geschehnisse hatte.
Noch eine Legende gefällig?
Martin wurde später asketischer Mönch, ein Umstand, der ihn in vielen Religionen zum Heiligen machte, auch wenn er bei seiner Christianisierungsmission nicht immer zurückhaltend war. Rund 40 Jahre nach der Mantelstory sollte er deshalb in Tours (Ungarn) zum Bischof ernannt werden. Das muss sehr turbulent gewesen sein, denn um der Ernennung aus Bescheidenheit zu entkommen, versteckte er sich an einem Ort, auf den niemand gekommen wäre: In einem Gänsestall! Er ahnte nicht, dass sich dort Gänse aufhielten, die mit Geschnatter auf den Eindringling aufmerksam machten. »Hört hört, die Gänse schnattern. Ob sich dort wohl unser zukünftiger Bischof versteckt?« Denn weil Gänse so selten schnattern, insbesondere, wenn es im November Zeit für die Schlachtung wird, war Martin rumsibums entdeckt und musste leider doch noch Bischof werden. Aus lauter Dankbarkeit/Schadenfreude/Hunger verputzen wir deshalb im November die sog. Martinsgans — hätten wir aber auch ohne Martin, bevor die Gänse sonst nach Süden ausgeflogen wären.
Abgesehen von der dubiosen Gänsegeschichte hat sich Martins Heldentum bis heute erhalten. Bei uns gibt es um die Ecke z. B. einen Holzschrank auf dem Bürgersteig, in den jedermannfrau Dinge des Alltagslebens stellt, die ersie nicht mehr braucht, aber vielleicht irgendjemand anderes. Dabei geht es darum, etwas zu teilen, etwas herzugeben, jemand anderem zu schenken, ohne dass man Schaden oder andere Einschränkungen davon trägt. Jetzt nicht super-idealistisch, aber ideal für das notwendige Müllvermeidungskonzept, damit wir das mit CO2 irgendwie hinbekommen.
Und das ist der wahre Grund, warum wir uns im November mit einer Laterne den Popo abfrieren.
Der Kleine versteht das alles natürlich noch nicht.
Wir verließen die Kirche also schon nach vier Minuten laut hallender Posaunenmusik, um draußen einem niedlichen Pony zu begegnen. Es sollte wohl Pate für Martin und sein Schlachtross stehen und entkam dem Novemberkältetod nur durch die drei Dutzend Kinder in Mänteln, die es umringten und zu streicheln versuchten. Klar hätte das der 8BitKleine auch gerne gemacht, echte Tiere, größer als Ratten, gab es in der Großstadt selten zu sehen. Am Ende war das eigene Überleben aber wichtiger und wir liefen rasch nach Hause, um uns mit aufgewärmtem Pferdegulasch in einige Lammfellumhängedecken (Amazon-Link) einzukuscheln. Wenig später schlief der Kleine anstandslos ein. Als ich ihn zudeckte und ihm die Laterne aus der klammernden Hand nahm, fragte mich, wie absurd, psychedelisch und traumhaft ihm dieses 11. November-Abendabenteuer in Erinnerung bleiben würde.
Wir freuen uns jedenfalls auf die bevorstehende Ankunft des nächsten Heiligen: Nikolaus von Myro, Zeitgenosse von Martin von Tours, mit ebenso rätselhaften modernen Ritualen, z. B. Schokolade in Schuhe zu stecken und sie hoffentlich vor dem Anziehen zu finden. Sein Bonus: Bei ihm gibt es keine Laternen-Ohrwürmer, die man erst nach einer Smoke-on-the-Water-Endlosschleife vergisst.
Euer 8BitPapa