Wir befinden uns im Jahre 2018 n. Chr. Ganz Deutschland lebt nach dem alten Eltern- und Geschlechterrollenmodell. Ganz Deutschland? Nein! Einige mit hippen Eltern bevölkerte Hauptstadtviertel leisten den alten festgefahrenen Strukturen Widerstand. Hipp? Ich bin zwar so hipp wie die Neue Deutsche Welle, aber die Elternzeit wollte ich mir ganz sicher nicht entgehen lassen.
Zu beschließen, ein Kind zu bekommen, ist keine alltägliche Sache. Auch nicht mit 44, wenn man das Leben schon blutdruckschonender angeht als mit 20, und insgesamt geduldiger geworden ist, außer mit Menschen, die mitten auf dem Gehweg stehen bleiben. Ein Kind. Ich musste da schon mal nachrechnen – was, wenn sich dieses Familienprojekt als »überhaupt nicht mein Ding« herausstellte? Dann wäre ich trotzdem in meinen 60ern, bevor ich den Nachwuchs in die Welt hinausschicken könnte und wir das Haus wieder für uns hätten. Kein Alter, in dem man eine neue Karriere startet oder in der Karibik einem neuen Lebensstil nachgeht. Die Folge: »Ein Kind« wäre vermutlich eines der letzten großen Projekte, das ich zu Lebzeiten anginge. – Auf der anderen Seite war der Wunsch nach biologischer Fortpflanzung schon immer da, ich hatte ihn in den letzten 25 Jahren nur vergessen. Die Entscheidung war eigentlich schon längst gefällt.Statt kalte Füße zu bekommen, entschloss ich mich also voll einzusteigen und das Ganze sogar in dieser Papa-Kolumne zu dokumentieren. Alles rauszuziehen, Positives wie Negatives, und das Abenteuer zu genießen. Das hautnahe Miterleben des Säuglingsalters gehörte selbstverständlich dazu – im Rahmen der sagenumwobenen gesellschaftsspaltenden Elternzeit. Außerdem hat Frau 8BitPapa auch Spaß in ihrem Beruf. Ein selbstverständlicher Grund mehr, dass ich mehr als nur die obligatorischen zwei Monate das Kommando auf dem Raumschiff Elternzeit übernehmen würde. Solange ich eben nur die wichtigste Regel niemals aus den Augen verlöre: Dafür zu sorgen, dass sich der Kleine nicht selbst umbringt.
Für meinen Elternzeitanteil haben wir uns eine ganz besondere Entwicklungsphase des Kinds herausgepickt. Nämlich die Zeit, in der der Nachwuchs auch langsam etwas von seiner Umgebung (und seinen Sorgeberechtigten) mitbekommt. Die Zeit nach dem Großen Spucken, dem ständigen Erbrechen eben verzehrter Nahrung. Die Zeit, in der er nicht mehr ziel- und bewusstlos wie ein programmloser Roboter in die Luft starrt, um im nächsten Moment grundlos zu schreien. Die Zeit, in der er beginnt, die Welt um sich herum zu entdecken. Und ich war auserwählt, diesem neuen Menschen dabei buchstäblich unter die Arme zu greifen. Welche Ehre. (Danke an dieser Stelle an Frau 8BitPapa, die das möglich machte und mir für die Vaterzeit einen halbwegs berechenbaren Jungmenschen zurechtkonditionierte, der nicht mehr jede Stunde kackte oder zwei Stunden am Stück schrie und weinte.)
Das Abenteuer Vaterzeit begann, etwa zu seinem 9. Lebensmonat.
Wie cool würde das denn werden! Janz jemütlich aufstehen, frühstücken, ein paar Bücher mit dem Kleinen lesen, dann zur einer Krabbelgruppe spazieren, mit den anderen Müttern Zeit verdaddeln, dann gemütlich mittagessen, Spielplatz hier, Kinderbauernhof da, gemütlich zum Kaffee- und Kuchen-Date spazieren und rechtzeitig zum Abendessen zuhause sein — was für eine grandiose Worklivebalance. Freilich würde ich dazwischen noch genügend Zeit haben, am Heldenblog 8BitPapa zu schreiben, während der Kleine endlos lange mit Holzkochlöffeln spielte. Die Sonnenrollos könnte ich auch endlich vor den Balkonfenstern anbringen. Und die Küchenschränke sinnvoll umsortieren. Dazwischen ein bisschen arbeiten und an meinem aktuellen Buchprojekt konzipieren und schreiben. Oh, und die Rumpel- und Werkzeugkammer aufräumen. Alles Kleinigkeiten, da bliebe immer noch genug Zeit, jeden Tag mal schnell mit dem Buggy zum Supermarkt zu rollern, etwas Leckeres zu kochen und in der übrigen Zeit die PS4 anzuwerfen, um den Tomb-Raider-Reboot durchzuspielen. Toll! Elternzeit war genau mein Ding!
Es kam ein bisschen anders.
Gemütlich Aufstehen zum Beispiel.
Da schien der Kleine ausgerechnet in meiner Elternzeit so eine Art Frühaufsteh-Entwicklungsphase durchzumachen. Ab halb 6, also 5:30 Uhr, ich meine morgens 5:30 Uhr, war an Weiterschlafen nicht mehr zu denken. Für diesen Fall hatten wir eigentlich ein Türfaltgitter installiert, das sein Zimmer vom Rest der Wohnung isolierte und in ein Solo-Spiel-Eldorado verwandelte. Baby reinsetzen – Ruhe haben. Unser »It’s a tarp!«-Kind hingegen empfand die Türinstallation seit Tag 1 als Freiheitsberaubung und machte auf diesen Umstand genau mit den lauten Geräuschen aufmerksam, für die man Familien mit Kindern hasst. Dann warf er protestierend alle Schnuller, Stofftiere und Trinkflaschen über die Falttür, um zusätzliche Aufmerksamkeit zu erregen. Nach einer Woche entdeckte er schließlich, dass Rigipswände nicht so stabil sind, wie uns Trockenbauer weismachen wollen, und demontierte die Halterungen kurzerhand. Wir wissen nun, dass in der echten Welt nichts vor ihm sicher ist und er überall hingelangt, wo er will. Ein Elternteil muss sich deshalb zu jedem Zeitpunkt zwischen Kind und den wirklich gefährlichen Installationen, wie Boiler, Ofen, Balkongitter, Treppenabsatz und Haifischbecken positionieren. Auch um halb 6 morgens.
Oder das gemütlich vormittags Spazierengehen mit gemeinsamem Mittagessen im Park?
Eine fast unlösbare logistische Herausforderung. Damit der Kleine nämlich nachts gut schlief, musste der Mittagsschlaf pünktlich beginnen. Das klappte aber nur, wenn er kurz vorher zu Mittag gegessen hatte und nicht vormittags einnickte, was wiederum vom Aktivitätslevel zwischen 9 und 10:30 Uhr abhing. Das Ganze stellte sich als eine hochsensible Kausalitätskette dar, bei der schon die kleinste Abweichung dafür sorgte, dass der Rest des Tages restlos durcheinanderkam. Im schlimmsten Fall verrutschte die Nachtruhe gerne mal von 19/20 Uhr auf 22 Uhr. Bye bye abendliche »Adam ruins everything«-Folge.
Zwischendurch Dinge erledigen? Etwas im Haus reparieren, arbeiten oder am Blog schreiben?
Das musste etwas mit den kosmischen Konstanten in diesem Universum zu tun haben. Denn die Zeit, die der Kleine zum Ausräumen von Schubladen, Fächern, Lowboards, Spielzeugkisten, Werkzeugkästen, Schuhschränken, Schmuckkästchen, Humidors und Weinregalen benötigte, entsprach der Zeit, die ich zum Aufräumen dieses hausgemachten Chaos aufwendete. (Im Zeitraffer wirkte unsere Wohnung wie ein lebender atmender Meta-Organismus, der im Laufe eines Tages wie nach dem Urknall in Entropie erstickte, und durch den abends schwarze Löcher durchziehen, die alle wild verteilten Gegenstände und Spielsachen wieder an ihrem Ursprungsort sammeln.) Dem nicht genug. Diese Phase, die ich »die Zeit des Großen Ausräumens« nannte, barg auch Gefahrenpotential. Solange das Kind mit vollem Körpereinsatz den Fußboden poliert hatte (sehr praktisch!), kam er nicht über 30 cm Aktionsradius nach oben hinaus. Das war also nicht mal genug für den Couchtisch. Doch ausgerechnet in meiner Vaterzeit begann sich der Ausräumator am Mobiliar in die Homo-Erectus-Körperhaltung nach oben zu ziehen. Mayday mayday! Ich nutze nun jede freie Minute, den gesamten Wohnungsinhalt einen Meter nach oben zu verschieben, wie Schiffe im Panamakanal. Es ist erstaunlich, wie viele Gegenstände man tatsächlich besitzt, an denen ein Baby ersticken oder das Auge eines unschuldigen Unbeteiligten ausstechen kann.
Die Bilanz zwischen Erwartung und Realität der Vater-Elternzeit könnte also schlechter nicht sein. Ich höre sogar manchen Leser in genau diesem Augenblick spotten »Hätte ich dir gleich sagen können«. Mit einer Hand kraule ich nun den Bauch des Kleinen, mit der anderen schieben wir uns gegenseitig Bauklötze zu. Mit der dritten Hand räume ich die Spülmaschine aus – mehr ist nicht drin. (Zaphod Beeblebrox wäre trotzdem stolz auf mich.) Gleichzeitig komme ich aus dem Staunen nicht heraus, wie alleinerziehende Mütter und Väter das hinbekommen. Wie sie alleinerziehen, gleichzeitig einen Haushalt führen, gleichzeitig dabei arbeiten, und sich gleichzeitig in ihrem Blog über all das auskotzen. Hut ab!
Doch das Universum meint es nicht nur übel mit mir. Eine Sache bleibt mir erspart, die mir besonders für den Erhalt meiner Zurechnungsfähigkeit am Herzen lag. Noch bleibe ich verschont von Aramsamsam, dem Traumzauberbaum und anderen repetitiven C‑Dur-Kindermelodien, die sich wie das Tetris-Lied in den Hypothalamus bohren und ihn nie wieder verlassen. Irgendwann denkt man nicht mehr an den Gesang, bis er viele Jahre später, vielleicht während der Toilettenpause beim WM-Endspiel 2022 »Panama gegen Senegal«, ausbricht wie ein Virus »Kuckuck Kuckuck, Drrrrn Drrrrn, DINNNG DONNNG«.
Grundsätzlich habe ich natürlich nichts gegen kognitiv stimulierende und vor allem das Kind beruhigende und ablenkende Melodien. Nur dass die meisten so aalglatt, pädagogisch überfröhlich und perfekt harmonisch sind, dass sie unerlaubt Teile meines Verstands überschreiben und anfangs eine Art Narkose hervorrufen. In Stadium 2 tritt dann der umgekehrte Effekt ein und es entsteht eine Neurose (wie bei Roofi). Nein, während meiner Vaterzeit kommen mir keine ungewaschenen Jules, Anne Kaffeekannes und Schnischnaschnappis aus den Lautsprechern, because I can! Zum Beispiel dank der »normalen« Melodien im Rockabye-Baby-Format, von denen man schon nach wenigen Monaten Eingewöhnung auf die Originale von den Doors, Iron Maiden, Queen, Bowie, Grateful Dead, U2 und meinetwegen auch Elton John wechseln kann. Bislang geht die Rechnung auf. Mit zehn Monaten wippte das 8Bit-Baby das erste Mal zu »Stuck in the middle with you« und »Under Pressure« mit. Wie passend 🙂
Lange hält dieses Elternzeit-Glück nicht an, darüber bin ich mir im Klaren. Gerade gestern wurde ich überstimmt und das Traumzauberbaum-Intro als Gute-Nacht-Einleitungsmelodie gewählt. Und heute Morgen erwischte ich Frau 8BitPapa, die Saboteuse, wie sie meinem Sohn Lieder von Gerhard Schöne vorsang. Wie soll denn bitte so ein anständiger Headbanger aus ihm werden?
Euer 8BitPapa
Fortsetzung folgt (Neulich in der Krabbelgruppe: »Papa-Elternzeit: Das große Krabbeln«)