Mütter tun sich viel schwerer mit der Trennung.« sagte die Kita-Eingewöhnerin. Was bitte machte dann der Kloß in meinem Hals, jedes Mal, wenn ich meinen Sohn verabschieden musste? Und warum sagt man in Bayern eigentlich nicht »einen Knödel im Hals haben«?
Ich wäre ein schlechter Kita-Betreuer. Ich bin einfach nicht polyglott oder souverän genug, wenn ich für die Eingewöhnung unbeteiligt am Rand sitzen soll, und ganz unvermittelt ein fremder Zweijähriger vor mir steht und mir etwas mitteilen möchte.
»Fooanläh?«
»Ja. Ähm. Hallo.«
»Sfooonganlähh!«
»Ja. Toll. Schön sprichst du.«
»Soogg H Aan Lääh!«
»Sockenhalter? Saug.. saug-irgendwas. Hilfe! Aber toll, ähm, machst du das. Jetzt verschwinde, husch husch.«
Was, wenn’s etwas Wichtiges war? Dass er Unterzucker hat oder dass die Batterie seines Herzschrittmachers schlapp macht? Sauglärm? Seestern? Und da wir in einer Multikulti-Kita untergekommen waren, konnte ich mir nicht mal sicher sein, dass es sich um indogermanisches Vokabular handelte, hinter dessen Bedeutung ich kommen sollte. Sonne fern?
»Sooooonnnggnnn pflflflf fhhh.«
Das Kind rollte ungeduldig mit den Augen, erblickte neben mir am Boden ein Stück Banane und folgte seinem niemals endenden Hunger. Hastig senkte ich den Kopf, vertiefte mich in mein Buch und schaltete die Tarnkappe an, um wieder Teil des Mobiliars zu werden. Denn ich war auf einer wichtigen Mission: Mein Sohn saß auf der anderen Seite des Zimmers mit der Betreuerin und wurde eingewöhnt. Sollte er dabei Heimweh bekommen oder einen Fremde-Dinge-und-Leute-Overload, dann könnte er jederzeit zu mir krabbeln, um sich eine Dosis Schutz und Geborgenheit abzuholen, und gestärkt aufs Neue loszuziehen. Wie ein Buffbot, ein NPC, der die Kämpfer und Bogenschützen einer Abenteuerparty regelmäßig mit Gift- und Krankheitsresistenzsprüchen stärkt.
Wäre das nicht praktisch? Von solchen Zaubern, Buffs genannt, kann man in der Kita freilich nicht genug haben. Und nicht nur von den psychologischen, sondern auch denen gegen echte krabbelnde Keime. Konnte ich glauben, dass am Ende jedes Tages eine Putzkolonne jedes Spielzeug und jede Oberfläche reinigte und desinfizierte? Mitnichten. In unserer Straße gibt es beispielsweise eine Kita, die sieht von außen aus wie eine Raucherkneipe. Sie lässt sich aber eindeutig als Kindertreffpunkt identifizieren, da ununterbrochen handschriftliche Notizen an der Tür kleben »Geschlossen wegen Läusen«, »Geschlossen wegen Hand-Mund-Fuß«, »Geschlossen wegen Malaria, Pest und was weiß ich noch«. Ich habe noch nie lebendige Kinder durch diese Tür ein- oder ausgehen gesehen. Schuld waren sicher infizierte Spielsachen.
Ich blickte auf meinen Sohn, wie er mutig jedes mikrobenverseuchte Objekt aufnahm, von allen Seiten untersuchte und verschiedene Interaktionen durchprobierte — über den Boden fahren, oder mit anderen Objekten verbinden oder stapeln. Zum Glück hörte er wenigstens vor einigen Wochen auf, sämtliche Objekte zwischen den Kauleisten auf Essbarkeit durchzutesten. Es sei denn, es handelte sich um Nahrungsmittel (außer Mandarine, keine Ahnung warum), die er mit erstaunlicher Präzision wiedererkannte. Obwohl; wir sind da ja nicht so und legen ihm auch ein auf den Boden gefallenes Stück Brot wieder auf den Teller. Natürlich nur vom heimischen Boden, den wir sowieso alle zwei Stunden wischen und staubsaugen, weil das Brot üüüberall ist. (Überall, es ist wirklich schlimm. Ich bin da wie der Prinz auf dem Brotkrumen und merke jeden noch so kleinen Krumen durch die dicksten Winterbaumwollsocken. Ich würde Hänsels Breadcrumbs im Wald blind im Dunkeln mit Augenbinde und ohne GPS wiederfinden.) Aber wenn ich mir vorstelle, wie jedes Kind jedes Spielzeug abschleckt und welch hochinteressante mikrobiologischen Kulturen sich auf ihnen befinden müssten — das ist doch Material für einen James-Bond-Film?
»Pah, mich interessiert ihr böser Plan nicht.”
»Har har. Dann ist es eine Qual für Sie, ihn hören zu müssen, Mister Bond. In der Spitze dieser Rakete befinden sich die Spielzeuge einer Kita. Kleingehexelt, damit sich die Partikel in der Stratosphäre verteilen und den ganzen Globus mit der Hand-Mund-und-Fuß-Krankheit infizieren.«
»Oh Himmel. Mich interessiert auch nicht, was sie mit dieser Spritze in der Hand vorhaben.«
»Har har har. Sie können meinen Worten nicht entkommen. Ich werde mikroskopisch kleine Spielzeugsplitter in ihre Blutbahn spritzen, damit sie von innen heraus von Kinderläusen aufgefressen werden. Har har har.«
»Vorsicht, da ist ein Säugling mit vier Milchschneidezähnen an Ihrem Fuß.«
»Wo? Oh nein. Wo ist er? Hilfe. Ich seh ihn nicht.«
»Ha ha, reingefallen. Inzwischen habe ich mir die Spritze gemopst, meine Fesseln durchgeschnitten, die Raketenspitze desinfiziert und Sie zur Kita-Eingewöhnung angemeldet.«
»Oh neiiiiiin!«
— 🕹 —
Herausgerissen wurde ich aus diesen Tagträumen durch die mit allen Armen rudernde Betreuerin, die meinem Sohn seit einer Viertelstunde geduldig verschiedene Autos vorführte – sie konnte ja nicht wissen, dass er nicht gerne mit Autos spielte. (Warum gehen eigentlich alle davon aus, dass alle Jungs gerne mit Autos spielen? Ist jetzt 2018? Oder doch 1918?!) Denn heute war ein besonderer Tag und das war das besondere Zeichen. Ich würde das erste Mal die Kita für eine geschlagene Stunde verlassen, mein Kind vollständig in die Obhut der Expertenpädagogin entlassen und hoffen, dass er keinen Nervenzusammenbruch bekam. Oder sie.
Aufgeregt packte ich mein Buch ein, ging hinüber und störte ganz kurz das gemeinschaftliche Spiel mit einigen beruhigen Worten und einem Kuss auf seinen Kopf — unser Abschiedsritual. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet und wirkte etwas durcheinander. Die Betreuerin lenkte ihn aber geschickt ab, die Situation schien unter Kontrolle. Zeitlupenleise schob ich mich an der Wand zurück zur Tür. Plötzlich hob mein Sohn seinen Kopf und die Groschen fielen säckeweise. Unsere Blicke trafen sich, der schlaue Fuchs sah den Rucksack und fing sofort an zu weinen. Kindertränen wirken nun wieder umgekehrt, wie ein Debuff; sie sorgen also für ein kurzzeitiges Hemmnis, in diesem Fall der Zauber Versteinerung. Wenigstens für 5 Sekunden. Aber es half ja nichts. Ich lächelte und winkte während mir das Herz brach und ich ihn hilflos in der Welt der Kinderviren zurückließ.
Konfus und niedergeschlagen kämpfte ich mich zurück in den Umkleidebereich, zog Schuhe und Jacke an, um die Kita mit einem mulmigen Gefühl im Bauch zu verlassen. Draußen bot sich mir ein schreckliches Bild. Ein Dutzend andere Eingewöhnungseltern verteilten sich auf das Kitagelände. Hier saß ein Vater auf der Treppe und starrte seelenlos in den Himmel, daneben einer, zitternd, mit zwei Zigaretten zwischen den Fingern. Auf einer Bank saß eine Mutter und tippte hektisch auf ihrem Smartphone Nachrichten an ihren Psychotherapeuten. Und dort drüben schaukelte eine Mutter einen leeren Buggy während sie ein Wiegenlied summte. Eigentlich hatte ich mich seit Wochen auf diesen Augenblick vorbereitet. Extra mein Laptop mitgenommen, um ihn in einem Café auszupacken und darauf wichtige Cappuccino-Papa-Elternzeitartikel zu schreiben.
Stattdessen besorgte ich mir beim nächsten Bäcker einen Filterkaffee und ein Salamibrötchen und spazierte immer wieder um die Kita. Eigentlich trinke ich gar keinen Kaffee und bekomme von Aufbackschrippen Sodbrennen. Aber mein Handlungsspielraum war stark eingeschränkt, während vor meinem inneren Auge immer wieder die Abschiedsszene abspielte. Wie er mit all den neuen Dingen hantierte, seine Betreuerin ihn mit liebevollen Worten umgarnte. Und wie ich ihn brutalst zurückließ und er in bittere Tränen ausbrach und nach mir ruderte, während alle anderen Erzieher herbeieilten, um ihn mit tausend Händen festzuhalten.
Ich stellte mein Telefon lauter und starrte erwartungsvoll auf das Display, denn gleich würde doch sicher die Kita anrufen, ich müsse dringend das Heimwehkind abholen. Die Zwischenzeit nutzte ich, ein paar Nachrichten zu lesen; mit Kind kam man zu so etwas ja nicht mehr. GroKo? Donald Trump Präsident? David Bowie tot? Himmel, wie lange lebte ich denn schon hinter dem Mond? Oder hinter dem äußersten Planeten Pluto?
Nach drei bis vier Stunden war dann diese längste Stunde vorüber und der folgende Kitaorbit führte mich zurück aufs Gelände. Bereit, meinen Sohn zu befreien, manövrierte ich geschickt um die Elternzombies herum und wagte von der Umkleide einen Blick um die Ecke in den Krippenraum. Da saß er, zwischen den anderen Kindern und Betreuern, vertieft in Miniatur-Kfz-Crashtests. Ich klopfte, öffnete die Tür, sank herab, lachte und öffnete die Arme. Er blickte auf, zwinkerte, blickte herab und spielte weiter. Nanu? Ich rief »Hallo Kleiner” und kam näher. Nun kroch er reflexartig auf mich zu, verharrte jedoch auf halbem Weg wegen eines Stücks Banane auf dem Boden. Als ich ihn endlich umarmte und hochnahm, blickte er ausdruckslos in alle Richtungen, nur nicht in meine. Seine Bezugs-Betreuerin lächelte.
»Es lief super heute. Hat ganz kurz getrauert und war dann schnell abgelenkt. Morgen probieren wir […] Har har har. Sie kommen zu spät, Mister Bond. Die Gehirnwäsche Ihres Sohns ist abgeschlossen. Sie sind ihren Vaterpflichten nicht nachgekommen, Ihr Kind ist für immer verloren. Übrigens spielt er gerne mit Autos.«
»Was???«
»Wussten Sie nicht, dass er Mandarinen mag? Aber nur, wenn sie das weiße Fusselzeugs komplett entfernen. Har har har.«
»Neiiiiin.«
Ich erschreckte mich fast zu Tode, als in diesem Augenblick ein Zweijähriger nach meiner Wade griff »Fsss bpfääähh!«. Was, wie bitte? Fassbrause? Fußkäse? Meinen Sohn im Arm stolperte ich mit den letzten Kräften Richtung Kitaausgang, wo uns die seelenlosen Eltern empfingen »Er hat oin Küüünd!«, »Loosst sü nücht entkommen.« Wir liefen weiter, weiter, immer weiter, ohne zurückzublicken.
— 🕹 —
Diese Ereignisse liegen nun zwei Stunden zurück, wir sind sicher zuhause angekommen. Ich pule Mandarinen und schimpfe, wenn mein Sohn die angekauten Stücke auf den Boden pfeffert. Wenigstens bohrten die sich nicht schmerzhaft in Fußsohlen wie legosteinharte Brotkrumen. Ich frage mich, wie ich denn morgen zwei Stunden lang durchhalten würde. Hmm, wer wird hier eigentlich für was eingewöhnt?
Euer 8BitPapa