Das, was der 8Bit-Junior von der Draußenwelt mitbekam, war ihm wohl zu stressig. Er entschied sich, seine bauchige Bleibe der letzten neun Monate nicht zu verlassen, auch nicht deutlich nach dem errechneten Termin. Aber es hilft ja nichts. Doch. Ein paar Pillen helfen.
Eigentlich sollte unser Kleiner vor dem errechneten Geburtstermin, dem 28.8.2017, auf die Welt kommen. Schließlich war es doch bei allen anderen Kindern so. In beiden Familien. Über drei Generationen. (Außerdem hatte ich’s schon überall herumerzählt.) Aber selbst eine Woche nach dem Stichtag gab es keine Spuren von Wehen oder anderen Geburtskennzeichen. Kurios klangen daher die Kommentare.»Ohhhh… siehe da, ein Babybauch. Wann ist es denn soweit?«
»Vorgestern.«
»Oh.« (Die Person ist nun ratlos, wie es weitergeht. Ist die Terminüberschreitung gut? Oder schlecht? Oder gar katastrophal und man setzt besser ein besorgtes Gesicht auf?)
Klar, der Bauch wird nicht kleiner. Deshalb häufen sich solche Bemerkungen und Rückfragen um die bevorstehende Geburt exponentiell. Nebeneffekt: Mit jedem Kommentar rückt die Verspätung ins Rampenlicht, das unaufhaltsame Babywachstum ins Bewusstsein, und erinnert daran, dass es für den berüchtigten Wassermelonenvergleich zwei Szenarien gibt: kleine Wassermelonen. …und große. Au Backe.
Auf der anderen Seite sah nun jeder Verwandte, Bekannte und Passant zweifelsfrei, dass hier eine schwangere Person durch die Straßen eierte und man gefälligst einen Platz anbietet. (Das war nicht immer so.) Oder zumindest Platz macht, wie dieser junge Mann mit Ziegenbart und knallroten Beats by Dre auf den Ohren, neulich an der Ampel. Er drehte sich bei unserer Ankunft um und erfasste zuerst das lieblich lächelnde Gesicht meiner besseren Hälfte, begann sie in Folge partnersuchend von oben nach unten zu scannen – etwas unverschämt, aber so ist man halt mit 20. Beim Bauch angekommen machte sein Hypothalamus unvermittelt einen Kopfstand und er wich, ernsthaft erschrocken, einen Meter zurück. Als bahnte sich der Alien-Chestbuster höchstpersönlich seinen Weg aus dem Babybauch.
Das brachte den Bauch, Verzeihung, das Fass von Frau 8Bitpapa zum Überlaufen: Sie wünschte sich einen kleineren Bauch. Oder, besser, keinen Bauch mehr. Ein bis zu zwei Wochen verzögerter Geburtstermin mag medizinisch in Ordnung sein, aber freilich wird alles mühsamer. Schwerer, schwerfälliger, manövrierunfähiger. Und jeder kleine Ausflug wird zur Weltreise. Zum Beispiel die nervigen regelmäßigen Checks, alle zwei, drei Tage in der Klinik. Eine Qual – hinfahren, stundenlange langweilige Tests, zurückfahren, rinse, repeat. Bis schließlich bei solch einem Termin eine Ärztin (eine Woche nach dem errechneten ET) meinte:
»Warum leiten Sie denn nicht ein?«
Ja, gute Frage. Warum leiten wir denn nicht ein? Wir hatten darüber noch gar nicht nachgedacht. Noch nicht mal irgendetwas darüber gelesen.
»Ja wir wollen eine möglichst natürliche Geburt. Lief doch bisher so gut, die letzten neun…«
»Ich muss Ihnen das jetzt sagen, Sie gehören ja schließlich in eine Risikogruppe. Da haben Sie jetzt nämlich ein erhöhtes Risiko, dass das Baby im Bauch stirbt.«
»…
…
Können wir bitte ASAP einleiten?«
Gesagt. Getan. Nicht sofort, aber nach einem letzten Wochenende, das wir dann noch in gemütlicher panikloser Zweisamkeit verbringen wollten, ohne uns ins Bockshorn jagen zu lassen. Am Montag würden wir dann einleiten lassen.
Ein paar Wohlfühlfilme und Lieferpizzen später standen wir am Dienstag in aller Herrgottsfrühe auf der Klinikmatte. Denn wer zuerst kommt, der gebärt zuerst. Und überhaupt wollten wir ja alles ambulant machen und gleich danach wieder heim. There is no place like home, selbst nicht das komfortableste 5‑Sterne-Hotel.
Wir checkten ein, wir hatten Glück, ins »Familienzimmer«. Das ist ein normales Single-Krankenzimmer mit zweitem Krankenbett und zusätzlichen Essens-Vouchern – für knapp 60 Euro am Tag, also für etwa drei Sterne. Die Aussicht war hervorragend, ins Grüne, das Bad sauber und reichlich Seife und Klopapier vorhanden. Auch eine riesige Wickelstation mit allem Wickelpipapo stand bereit, mit Windeln und Spucktüchern, Bodys bis hin zu Cremes und Ölen; unsere Heimausstattung sah dagegen blass aus. Allerdings roch das Zimmer streng nach Desinfektionsmittel (muss eine Wahnsinnsparty gewesen sein) und der Weg zum Strand war nirgends ausgezeichnet (auch an der Rezeption wusste man von nichts). Auch das Bett mit praktischem Antirausrollgeländer war kein Bequemlichkeits-Highlight, da konnte auch die Fernsteuerung (nette Idee) für verschiedene Auf- und Abjustagen der Kopf- und Kniepartien nichts retten. Toll: An allen Ecken und Enden schimmerten rote Buttons, mit denen das Servicepersonal gerufen werden konnte. Nicht so toll: Wer sich ungelenk aufs Bett niederließ oder zu schwungvoll umdrehte, betätigte diese Knöpfe unbemerkt. Wenige Minuten später stand dann aus heiterem Himmel eine fremde Person in Kittel im Raum und niemand wusste so recht, warum.
»Wo gibt es ein Problem?«
Gegenseitiges fragendes Anblicken.
»Wir… haben kein Problem. Aber danke für der Nachfrage.«
»Sie haben doch geklingelt.«
»Gewas? Nein. Wir haben nicht geklingelt.«
»Doch doch. Sehen Sie doch diese rote blinkende Alarmleuchte da oben beim Rauchmelder.«
»Ach kann es sein, dass…«
»Sehen Sie, jetzt haben Sie wieder geklingelt.«
Ich fischte eine kabelgebundene Plastikfernsteuerung zwischen Kopfkissen und Matratze hervor, die an ein Kindertelefon erinnerte. Ich widerstand der Versuchung, alle bunten Knöpfe durchzutesten und meine dringendste Frage anzubringen. »Gut, dass Sie gerade da sind. Wo ist eigentlich die Minibar?«
Nach der Besichtigung der lokalen Infrastruktur, einem Getränke- und Snackautomaten im Parterre und einem Panoramacafé in der Dachetage, begaben wir uns in den Wellness-Bereich, zu den Kreißsälen. Hier erhielt die 8Bit-Mutter in spe nun alle vier Stunden eine magische Abnehmpille. Dieses Wunder der Medizin sollte das ganze System da unten, vereinfacht gesagt, anregen. Ein willkommener erster Schritt, denn von Wehen war immer noch weit und breit nichts zu sehen oder spüren.
So tingelten wir den Rest des Tages regelmäßig zwischen quasiprivatem Refugium und Kreißsaal. Unterbrochen nur durch einen ausgedehnten Erkundungsspaziergang in der krankenhäuslichen Nachbarschaft, auf der Suche nach kulinarischen Highlights der regionalen Küche. Bei einem Supermercado wurden wir fündig. Sein Nahrungsmittelangebot war dem Menü unserer Herberge (Hühnerreis in Mehlschwitze, Pilzsauce in Mehlschwitze, Senfgurken in Mehlschwitze) geschmacklich weit überlegen. In Folge legten wir uns im Zimmer hinter dem Vorhang ein ungekühltes Vorratslager an: Kekse, Wiener Würstchen, Baumkuchen, Pfefferbeißer, Haselnusstafeln, Minisalamis, Nüsse und Trockenfrüchte und ein paar Dosen Oktoberfestbier, denn inzwischen war Anfang September und der Einkaufsleiter des Supermercados hatte seine Hausaufgaben gemacht und das Festbier extra für unsere Geburt importiert. Frau 8BitPapa entschied sich übrigens für eine Birne.
Am Ende des ersten Urlaubstages folgte um 22 Uhr die letzte Wehenwachmachdosis.
- Gegen 1 Uhr nachts dachte sich niemand etwas, als ich zwischen Angry Birds Reloaded, Reddit und Instagram wegdöste.
- Frau 8BitPapa kam zum selben Zeitpunkt etwas Spanisch vor. Sie bummelte durch die menschenleeren Flure, um sich zu entscheiden, ob das nun Vor‑, Früh‑, Press- oder genau die richtigen Wehen waren, mit denen sie die Kreißsaal-Kriterien erfüllte.
- Gegen 3 Uhr wachte ich auf, bemerkte das Fehlen meiner besseren Hälfte, setzte eine Telegram-Nachricht ab und hakte den Mangel einer Antwort als »scheint wohl nix Ernstes los zu sein« ab.
- Um 4 erwachte ich erneut, gebeutelt von einem Traum, dass Telegram-Nachrichten wegen des schlechten Empfangs gar nicht in den Kreißsälen ankamen. Das entsprach der Realität. Panik.
Fünf Minuten später stand ich an Ort und Stelle und beobachtete meine bessere Hälfte dabei, wie sie in gebückter Haltung, einer sizilianischen Matrone gleich, jammernd und schnaufend von einem zum anderen Ende des Raumes tigerte. Die Wehen hatten eingesetzt. Juhu?
Es folgten ein paar Stunden seltsam verzerrte Movie-time, wie in einem Tarantino-Film mit zeitversetztem Script. Nur mit weniger Blut, jedenfalls auf unserer Seite der Beine. Nach den unglaublichsten Schmerzen aus der Hölle, Drücken, Ziehen, Ziepen, Pressen, wie an schlechten Tagen der Schwangerschaft, aber hoch 10, war an eine drogenlose Geburt nicht mehr zu denken. Das hatten wir freilich abgesprochen. (Nein, wir hatten keinen Geburtsplan. Kennen Sie Geburtspläne? Wenn nicht, googlen Sie mal und lachen Sie herzlich, wenn Sie schon eine Geburt hinter sich haben. Alle anderen versuchen bitte den Geburtsplan in ein Flussdiagramm umzusetzen; hier, nehmen Sie sich ein Taschentuch.) Als Lösung bot sich eine Kombination aus unwirksamem Lachgas und einigen sehr wohl wirksamen intravenös verabreichten Millilitern eines Anästhetiesegens an. So dass ein paar Wehen später tatsächlich unser überraschend haariger Nachwuchs wie ein Maulwurf über den Bauch der Mutter zu robben versuchte. Ich fasse zusammen:
- Die Zeit zwischen Wehen und Geburt verging in unserem Fall schneller als vermutet/befürchtet. Objektiv waren’s sechs, sieben, acht Stunden, je nachdem, wen man fragt. Subjektiv waren es zwei. Keine Zeit für Kreuzworträtsel, nicht mal eine Partie Smartphone-Scrabble oder den neuesten Roman von Robert Charles Wilson. Auch die Pizza, die ich mir schon allein deshalb liefern lassen wollte, um eine tolle Anekdote erzählen zu können, blieb unbestellt. Was zählte, war Hände halten, Wehensekunden mitzählen, Wehe für Wehe, und wissen, dass man nichts anderes machen kann, darf, muss und soll, als da zu sein. Bis es soweit ist.
- Der Aufforderung »Gucken se doch mal« jenseits der zwei aufgestellten Beine konnte ich allerdings nicht widerstehen. Und unglaublich! Da sah ich ein Stück des Schädels. Mit Haaren. Gar nicht blutverschmiert und eklig, wie ich immer dachte, sondern außerordentlich faszinierend. (Aber nicht so faszinierend, dass ich mir jemals entsprechende YouTube-Videos reinziehen würde.)
- Es gibt eine Welt zwischen natürlicher Geburt ohne Medikamente und Full-power-PDA (Anästhesie des Unterleibs). Ein paar gezielte Salven Lachgas (die Wirksamkeit wurde heftig umstritten, gelacht hat niemand) und intravenös eingeführtes LSD machten die Wehen halbwegs erträglich und vermieden, dass wir, wie bei einer PDA, mehrere Tage stationär in der Klinik bleiben müssten. (Retrospektive glaube ich nicht, dass es sich um LSD handelte. Auch hier wurde nicht gelacht.)
- Kamera vergessen? Too bad. Man weicht doch nicht vom Geburtsbett. Aber für’s Fotografieren ist ohnehin keine Zeit. Und selbst wenn. Das Licht ist zu schummrig und mit ISO 10.000 macht Fotografieren keinen Spaß. Blitzen im Kreißsaal? I don’t think so.
- Zwischen Glückstränen und der völligen Fassungslosigkeit über das eben Geschehene, hielt man mir (tatsächlich, wie beim Geburtsvorbereitungskurs angekündigt) die grünblaue Nabelschnur und eine Chirurgenschere vor die Nase. Ich hatte bereits schlecht zu Abend gegessen und lehnte dankend ab. Dann fragte man die Mutter. Als gäbe es versicherungstechnische Gründe, dass Hebammen und Ärzte keine Nabelschnüre durchschneiden dürften? Vielleicht ein verrücktes brandenburgisches Gesetz aus dem Jahr 1348?
Eine Nachgeburt und eine Dusche später lagen wir wieder im Krankendoppelbett in unserem Stationsappartement. Fassungslos reichten wir das Häufchen Haut und Knochen mit verknautschtem Gesicht zwischen uns hin und her. Es sollte nackt auf unserer Brust liegen, das nennt man Bonding und hat nichts mit der Szene im Hinterzimmer des Waffenladens in Pulp Fiction zu tun.
Und da waren sie. All die Oxitozyne und anderen Hormone, die dafür sorgen, dass wir unsere Jungen nicht auffressen, auch wenn es sonst nur Mehlschwitze gab. Im Gegenteil, in leichtsinniger Kurzsichtigkeit versprach ich dem kleinen Menschen, ich würde fortan auf ihn aufpassen und alles für ihn tun. Nun rollte mir eine Träne über die Wange als er in scheinbarer Reaktion die Nackenmuskulatur aufs Äußerste anspannte und den Kopf gerade so hoch hob, dass er mich sah, mir mit zwei treuen blauen Augen antwortete »Darauf kannste einen lassen!«
Fortan besuchten uns zwar alle zwei Stunden verschiedene Hebammen, vergaßen aber immer wieder, eine Anleitung für das Neugeborene mitzubringen. Dafür erklärte die jeweils diensthabende Dame sämtliche Maßnahmen der vorherigen Betreuerin für nichtig und stellte neue, modifizierte Regeln zum Halten, Stillen und Schlafen auf. Nein, ernsthaft, der Zimmerservice war hervorragend. Die Spontanbesuche von Reinigungskräften, Ärzten und Schwestern gaben uns das Gefühl in sicheren und kompetenten Händen zu sein.
Nach zwei Tagen hatten wir trotzdem genug von Mehlschwitze und Desinfektionsmitteln. Wir schnappten uns das nächste Taxi nach Hause. Die Momente der Rückreise und die Ankunft daheim, das Willkommenheißen unseres Babysohns in seinem neuen Zuhause, das alles lief in Zeitlupe und bleibt unvergesslich.
Die Babyschale auf unserem Esstisch, darin ein neuer zappelnder Menschenwurm, der glucksende quietschende Geräusche machte, wie ein defektes Meerschweinchen – unsere neue, noch surreale, Realität zu Dritt.
Euer 8BitPapa
P. S. Die neue Realität holte uns schnell ein. Dabei glaubten wir, gut vorbereitet zu sein. Am Ende waren es dann aber diese Top-10-Dinge, die wir tatsächlich im ersten Monat brauchten.