Fünf Monate überlebt der neue Nachwuchs nun mit uns, und langsam überlegen wir, wie wir das Beikostthema angehen. »Bei«, weil die neuen Nahrungsmittel zusätzlich zur Muttermilch angeboten werden. »Kost« weil es viele Nerven kostet, herauszufinden, was okay und was nicht okay ist.
Es dämmerte uns erst am dritten Tag, nachdem wir unserem Kleinen Gurkenstreifen zum Verzehr anboten. Mit Vorliebe nahm er sie in die Linke oder Rechte und lutschte das labbrige Kerngehäuse ab – sein erstes Ottonormalessen, was waren wir stolz. Doch dann erwachten die Überfürsorglichkeitsdämonen (Vorboten des Helikopterleidens). Was, wenn er allergisch auf Gurke ist? Was, wenn, ja wenn was eigentlich? Die offizielle Kinderärztinfreigabe hatten wir nur für gekochte Möhren, Kartoffeln (und Pastinaken. Pastinaken? Irgendwie ist der Pastinakenzug an mir vorbeigefahren. Seit wann essen wir Pastinaken? Weckt man da nicht falsche Erwartungen bei den Kleinen?). Da schien uns nach gesundem Menschenverstand die Gurke eine sinnvolle Ergänzung zu sein. Die schneidet man schnell auf und sie besteht doch sowieso nur aus Wasser, was sollte da passieren?Stellt sich heraus, dass Gurken lebensgefährlich sind! Denn sollte der Kleine ein Stück abbeißen, würde er es in Ermangelung der Backenzähne im Ganzen herunterschlucken. Aber nicht ganz. Es würde quer in der Speiseröhre stecken bleiben und auf die Luftröhre drücken, was zum grausamen Kindstod oder ADHS führt. Das gleiche gilt freilich für Kirschen, Pflaumen und Avokados, wenn man ihre Kerne verschluckt. Also wollten wir fortan sorgsamer bei unserer Nahrungsmittelwahl sein.
Wir folgten der Kinderärztinempfehlung und dämpften Möhren und Kartoffeln. Damit das nicht in eine Extrawurst und Umweltenergiesauerei ausartete, passten wir dazu unsere eigene Nahrungsmittelplanung an und verzehrten selbst mehr Wurzelgemüse. Zum Glück lassen sich Möhren und Kartoffeln ja mit so vielen Dingen kombinieren, sogar wechselseitig, z. B. in einer Kartoffelkarottensuppe mit etwas Salz, Pfeffer, Muskatnuss, ein Schuss Tabasco. Aber halt! Entscheidend für den Nachwuchs war, seine Portion vor dem Würzen und Kombinieren mit anderen Lebensmitteln abzuzwacken. Denn die kleinsten der Kleinen bekommen nur das purste des Puren. Selbst Liebstöckl und Majoran sind tabu. Ja, sogar Frank’s Hot Sauce! Aber das ist einleuchtend: Wenn sich der Kleine schon mit zwei Jahren an Five-Alarm-Chilis gewöhnte, wäre für ihn später die Versuchung zu groß, sich für Scharf-ess-Wettbewerbe in Szenelokalen zu prostituieren. Dann würde er seine eigene Fernsehsendung bekommen »Deutschlands schärfste Lokale«, berühmt werden und mit 30 Psychotherapie benötigen, Drogen nehmen und in der Gosse landen. Nein, das wollen wir nicht, also erstmal »Karotte ohne alles«.
Doch nun gab es ein mechanisches und ein logisches Problem: Damit auch dieses Gemüse nicht im Hals stecken blieb, muss es so richtig durchgekocht sein. Durchgekochtes Gemüse kann der Kleine mit seinen kleinen Händen nicht richtig packen, denn mit seinen grobmotorischen Greifreflexen ist das, als fasse er durch Pudding. Abgerundetes Babybesteck funktioniert auch (noch) nicht, denn damit kann er sich die Augen ausstechen* (wir beobachteten, wie er manchmal das Auge traf, wenn auf den Mund zielte). Und ihm mit Löffeln Nahrung in den Hals zu gänsestopfen, ist eine Ausgeburt des Teufels aus den Siebzigern. Breifrei heißt die Devise heute, damit der Nachwuchs lernt, selbstständig zu essen und zu leben. Und nun?
Wir sind zurück zu Los gegangen und haben keine 2.000 Karotten eingenommen. Stattdessen gibt’s zum Abendbrot für den Kleinen neben der bewährten Muttermilch Wasser. Kaltes klares Wasser. Das mag er genauso gerne wie Gurkenwasser und jongliert mit Herzenslust stundenlang mit der Nuckelflasche herum, in die wir etwa 10 ml abgefüllt haben. Natürlich kommt kein Leitungswasser in Frage, denn irgendwo könnten noch Bleirohre verlegt sein, und dann hieße es ja BLEIkost. (Haha, ein Schenkelklopfer!) Selbstverständlich verwenden wir nur natriumarmes Dihydrogenmonoxid ohne Dihydrogencarbonat und Sulfat, kochen es vorher ab, homogenisieren es, filtern es durch Aktivkohle und lassen es vom Papst weihen.
Prostmahlzeit
Euer 8BitPapa
Nachtrag: Hier geht’s zur Fortsetzung: Baby-Beikost, die zweite
P. S. * A propos »ausstechen«, da muss ich noch von einer kuriosen Beobachtung berichten.
Der Kleine nimmt ja bekanntlich alles in den Mund, was er in die Hand nimmt. (Das ist inzwischen zur typischen Handbewegung geworden, wie bei Robert Lembke. Ein wohl ganz normaler Entwicklungsschritt, und das ist ja auch in Ordnung — vorausgesetzt man hat zum Abwischen genug Spucktücher in der Nähe. Allerdings zeigt der Nachwuchs nicht nur Interesse an für Babys geeigneten Holz- und BSP-freien Plastikobjekten, sondern blickt auch interessiert auf Alltagsgegenstände. Was eben so alles herumsteht und ‑liegt. Erwachsene Menschen haben dann den unwiderstehlichen Drang, dem neuen Menschen die Welt zeigen zu wollen. Sie verfolgen den Blick des Kleinen, heben das Objekt der Begierde hoch und präsentieren es von allen Seiten wie den Preis in einer Glücksrad-Episode. Aufgrund des wechselnden Sonntagmorgenpublikumsverkehrs in unserer Wohnung fiel der folgende Satz überraschend häufig – sogar von unterschiedlichen Menschen:
»Das ist ein Messer. Ein Broootmesser. Damit schneidet man Brooot.«
Dazu einige feenhafte Kill-Bill-Ninja-Moves des Dozenten. Gefolgt von der Andeutung, dem Baby das Messer zu geben, und dann der Ernüchterung, dass es das Wort nicht nachsprechen kann und schon vom nächsten Objekt, einer Plastiktüte oder Feuerzeug oder Flammenwerfer abgelenkt ist. Oder sogar von einer Gurke! Ich erwische mich dann immer, wie ich die Szene fassungslos mitverfolge. Ja, wo sind wir denn? Zum Glück frühstücken wir nicht in einem Jagdzubehörladen, in einem Küchenfachgeschäft oder bei Swarowski. Ergo, zum Frühstück gibt’s bei uns ab sofort nur noch Wasser.