Durch den Großstadtdschungel, vorbei an den Virenfallen der Bäcker und Bazillenschleudern an vollen Bushaltestellen schaffte ich es bis in die Kita, in die Keimzelle aller Krankheitserreger. Ich hatte Glück. Da lag er, mein Sohn, frisch gewindelt auf dem Wickeltisch, mit einem Lächeln so breit wie das einer Buddha-Statuette. Die Betreuerin kramte gerade hinter der Tür herum, sah mich nicht. Mit einer geschickten Handbewegung tauschte ich das Baby gegen eine Windelpackung mit gleichem Gewicht. Sie würde den Wechsel sicher nicht bemerken und wir könnten dem Virenverließ entkommen. Mucksmäuschenleise steuerten wir Richtung Umkleide.
Doch es wurde laut hinter uns. Schreien, Stöhnen, Wehklagen. Verdammt, sie war nicht darauf reingefallen, vielleicht die falsche Windelsorte. Die Kita-Betreuerin erschien am Ende des Gangs mit vollgerotzten Taschentüchern in der Hand. Hinter ihr stapften und krochen zwei Dutzend grippebefallene Kinderkadaver in unsere Richtung. Ich lief, während um unsere Köpfe Spuckepapierkugeln, vollgesabberte Plastikprinzessinen und Legoklötzchen peitschten. Schnell!! Sein Jäckchen umwerfen. Seine Schühchen anziehen. Sein Rucksäckchen packen. Das »Bitte Windeln mitbringen«-Schildchen umdrehen. Geschwind wie der Wind zum Ausgang laufen.
Da tat sich vor uns ein Grube auf, gefüllt mit Rotz und Spucke, alten Taschentüchern und Windeln. Und ich hatte meine Peitsche nicht dabei, um uns am Balken da oben hinüberzuschwingen. Aber dort! Auf der anderen Seite sah ich ein bekanntes Gesicht. Frau 8BitPapa! Sie hatte meine Peitsche, bereit zum Wurf. Hinter mir näherten sich rasch die Grippemumien, als sich über ihnen ein großer Schatten über die Szene schob: Eine gewaltige Kugel aus alten Windeln und Abputzwatte- und Feuchttüchern rollte auf uns zu. Ich suchte den Blick meiner Frau. »Zuerst das Baby!« rief sie, »Keine Zeit. Mach schon!« Ich küsste meinen Sohn auf den Kopf und lupfte ihn vorsichtig die fehlenden Zentimeter in die Obhut seiner Mutter. Die war sofort vom Bann ihres Babys verschlungen, ließ die Peitsche fallen und stürmte aus der Kita.
Ich war verloren.
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Alles halb so wild. Das ist nur Teil eines Film-Scripts, das ich 1980 an Steven Spielberg geschickt hatte. Natürlich abgelehnt, es gäbe keine Zielgruppe für »so irrwitzige Abenteuergeschichten« und »was der Quatsch mit der Peitsche soll«.
Doch die Bedrohung ist real. Jährlich beantragen Trilliarden deutscher Arbeitnehmer Kinderkrankurlaub, und ebenso viele Nachwachsende werden wegen schlimmer Krankheitssymptome zuhause zum Bücherlesen oder YouTube-Gucken verdonnert. Die Lösung? Sicherlich gibt es keine Lösung, wenn für jeden Mist Antibiotika verschrieben werden. Die dünnen den Bakterienpool gemütlich aus und evolutionalisieren dabei Superbakterien, gegen die es dann keine Mittel mehr gibt. »Alexa, bestelle bitte drei Cryotanks.« Das hier ist wirklich passiert, stand neulich in der BZ: »Ein Arzt verschrieb Antibiotika gegen Depressionen.« Gegen was Antibiotika wohl noch so helfen könnte? Müdigkeit? Hunger? Durst? Grippeviren? Lesen? Ignoranz?
Da kann ich die Kitas verstehen, die rund um die Krankheit eines Kindes Quarantäne-Zeitblasen einrichten. Bei unserer Kita braucht man für die größeren Überlebensereignisse mittlerweile eidesstattlich zugesicherte und notariell beglaubigte Gesundheitsprotokolle mit Zweit- und Drittmeinung von Ärzten aus anderen Bundesländern mit eingehaltener Gleichstellungsquote. Am besten schon eine Woche vor Rückkehr in die Kita.
Zu meiner Zeit gabs das nicht. Eigentlich hätte mein kleines Geburtstagsfest zum siebenten Überlebensjahr wegen Röteln abgesagt werden müssen. Stattdessen startete meine Mutter eine Telefonlawine und lud alle Kinder ein, deren Mütter es für eine gute Idee hielten, dass sich ihre Kinder, vor allem die Mädchen ansteckten. Besser jetzt, als später, während einer Schwangerschaft. Da stand ich also, auf meiner Geburtstagsfeier, übersäht mit roten, eitrigen Pickeln im Gesicht und dem ganzen Körper, im Kranksein-Kinder-Bademantel, mit Klassenkameraden und ‑kameradinnen um mich herum, inklusive M., in die ich fürchterlich verknallt war. Ja, es gibt ein Foto dieses traumatischen Ereignisses. Ja, seitdem feiere ich nicht Geburtstag. Und Tja, es waren dann doch keine Röteln, sondern nur Windpocken.
Dabei ist mit solchen Ansteckungen wirklich nicht zu spaßen, insbesondere nicht 2019. Begonnen hatte unsere Neuauflage der Pathogenparty mit dem familiären Neuzugang schon kurz nach der Kita-Eingewöhnung vergangenen Herbst. Schnell wurde es ein Happening für die ganze Familie, das sich gleich über mehrere Monate erstreckte. Einer war immer krank, und die anderen beiden wechselten dann jeweils zwischen Inkubation und Verbreitung neuer Parasitenstämme. Das war übrigens noch zu der Zeit, die wir aus offensichtlichen Gründen die »Spucktuch-Ära« nannten. Und ging es dem Kleinen mal etwas besser, schickten wir ihn vor Freude gleich wieder in die Kita, um dort neue Keime abzuholen. Und das obwohl wir vorgewarnt wurden, von meiner Zahnärztin.
Ich glaube, meine Zahnärztin kam eigentlich als Friseurin auf die Welt. Denn sie quatscht als gäbe es kein Morgen. Ihre Monologe während Wurzelbehandlungen und Weißheitszahnextraktionen sind schon kurios genug (»Ich hatte mal einen Patienten, der… Finden Sie nicht auch? Ach Sie können ja gerade nicht…«), da kann man wenigstens etwas dösen. Ist man aber gerade nur für eine Zahnreinigung da, entsteht gegebenenfalls ein Gespräch. Ich hasse Friseurgespräche.
»Und was macht die Kita-Eingewöhnung?«
»Ae ia! Ahe inj häer eheh Kanjeie, Kihe u Eänjänju u ko.«
»Ach ja ja ja, das ist immer so. Haben Sie hoffentlich noch genug Urlaub für dieses Jahr? Das tut jetzt etwas weh.«
»Ieho? I eiä Ohe i ah ho iehea ohei i er Kihe. Hui, aua!«
»Nein, nein, nein. Hahaha, auskurieren… Das geht jetzt erst richtig los. Sie werden sehen. Nehmen Sie sich besser jetzt schon Urlaub. Hier könnte es jetzt etwas zwicken.«
»Ualauh? Ah eh e eh ihi oh?«
»Na wenn die Grippe vorbei ist, kommt die nächste Krankheit. So ist das in der Kita. Erst Mumps, dann Röteln, Keuchhusten, Scharlach und natürlich die Hand-Fuß-Mund-Krankheit. Jetzt nochmal, ist gleich vorbei.«
»AUA! Hanh-Unh-Huhfh??«
Von dieser Krankheit hatte ich schon gelesen, als wir vor Jahren auf Kita-Suche waren. Gelegentlich stießen wir auf verdunkelte Läden mit verschlossenen Türen und vergilbten Schildern, auf die der Name einer x‑beliebigen Krankheit gekrizelt war »Wir haben Cholera« oder so. »Hand-Fuß-Mund« klang nun allerdings so, als hätte sich das jemand ausgedacht und diese Person war nicht besonders gut im Ausdenken von Krankheitsnamen. Wer von »Hand-Fuß-Mund-Krankheit« spricht, bei dem steht zu Hause sicher ein Magnet-Strahlen-Essens-Erwärmer und ein In-Verschiedene-Themen-und-Situationen-Einblick-Verschaffer, und er tippt Nicht-in-der-physischen-Welt-existierende-Briefe auf einem Oberschenkel-Auflage-Elektronengehirn-mit-eingebautem-In-Verschiedene-Themen-und-Situationen-Einblick-Verschaffer. Das kann selbst ich besser: Handmufose oder Ultrapocken, Schleimhautitis, Omnibose oder Kinderwut, Herumsauphilis oder Todesrötler, das klingt doch nach was!
Wenn Sie sich jetzt fragen, woher ich diese tollen Ideen habe, kann das daran liegen, dass mich wieder so ein arglistiges Pathogen erwischt hat, meine Umgebung verzerrt ist und ich aus dem Delirium heraus schreibe. Sie haben’s mal wieder geschafft, die Viren und Bakterien, die Sporen, die Alienkeime und Omega-Teilchen aus dem Kinder-Großwerd-und-Erzieh-Haus. Das würde auch erklären, warum der Mittagsschlaf unseres Sohns dieses Wochenende fünf statt der üblichen halben Stunde dauert. Es erklärt auch, warum meine Frau bei Missverständnissen bezüglich der Wohnungshygiene immerzu sagt »Bist du taub?«
Es müssen also neue Lösungen her. Zum Beispiel Tele-Kita-Plätze: Was für Büro- und Computerarbeitsplätze funktioniert, muss für Kinder nicht schlecht sein? Jedes Kind bekommt eine Action Cam auf den Kopf und die Gesichter von Spieltieren und ‑puppen werden durch kleine Bildschirme ersetzt, auf denen die Gesichter der Kita-Kommilitonen eingeblendet sind. Das Wort Telespiel wird neu erfunden!
Zu viel Horror? Nein, denn jetzt beginnen die verschreibungspflichtigen Benzodiazepine zu wirken und ich drifte ab in die Traumwelt der Kinder, Kitas und Keime, dem perfekten Naseabwisch-Move, dem Im-Sonnenschein-Funkeln der Tröpfchen, die mein Sohn gerade auf das Bilderbuchpapier geniest hat und der großen grünen Rotzblase vor seinem rechten Nasenloch, die er mit jedem Atemzug größer und größer aufbläst. Schnell, wo sind die Maler-Abdeckfolien?
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Ich stehe mit meinem Sohn im Kindercafé und wir überlegen uns, wie er sich die nächsten 15 Minuten beschäftigen möchte. Vor uns die Regale mit Babyspielzeug, eines schmutziger und abgegrabbelter als das andere. Auf einigen schimmert frische Kinderspucke, auf anderen kleben Speisereste und nicht identifizierbares verkrustetes organisches Material. Das 8BitBaby stürzt sich mutig voran. Ich bekomme ihn gerade noch an der Kapuze zu fassen, da schreitet ein alter Mann in Kreuzritterrüstung aus dem Schatten und flüstert »Wählt weise.«
Ah super, das muss ich mir notieren und gleich morgen an Spielberg schicken!
Euer 8BitPapa