Nein, natürlich nicht. Aber morgen früh werden zehn Plätze bei der Kita hier um die Ecke verlost. Ich packe gerade Wollhandschuhe und Mütze, Isomatte, Schrotflinte und meinen Schlafsack zusammen. Und eine Thermoskanne mit heißem Tee und einem Schuss Rum. Damit halte ich die Nacht auf dem Bürgersteig durch, um vielleicht noch einen Platz zu ergattern.
Ja, schönen guten Tag. Ich möchte unser Kind gerne für einen Kitaplatz… Nein, wissen wir noch nicht. Es ist noch nicht geboren. … Nein, die Mutter kenne ich noch nicht, ich bin gerade Single. … Habe ich auch nicht, ich wohne noch bei meinen Eltern.«Solche Telefonate führte ich vor 25 Jahren, als absehbar war, dass ich eines Tages in Berlin eine Familie gründen würde. Denn wenn es mehr Kinder gibt als Kindertagesstättenplätze, das lässt sich ganz einfach ausrechnen, muss man sich etwas einfallen lassen, um der Elternkonkurrenz eine Nasenlänge voraus zu sein:
Der frühe Wurm fängt den Vogel
Je nachdem, wen man fragt, sollte man sechs Monate vor Kitabeginn, zur Geburt, zur Feststellung der Schwangerschaft oder kurz nach dem Urknall einen Kitaplatz reservieren. Leider ist man zu spät dran, ein Gesetz des Kita-Universums, und so endet man überall auf einer Warteliste. Freilich nicht nur bei der Lieblingskita gleich nebenan in der Seitenstraße, sondern bei jeder Institution im Umkreis von 2 km (Großstadt) bis 150 km (Dorf). Und zwar egal, ob es sich um konfessionslose, christliche, muslimische oder Flying-Spaghetti-Monster-Kitas handelt.
Das Problem: Weil jedes Elternpaar zwei Dutzend solcher Wartelisteneinträge vornimmt, sind diese Listen so voll wie der Bahnhof Paris-Nord zur Berufsverkehrszeit. Die Lösung: Weil jedes Elternpaar am Ende nur einen Kitaplatz benötigt, sind die meisten Wartelisteneinträge nicht mehr als heiße Luft.
Alles schick also?
Jein. Die meisten Paare, die wir kennen, haben tatsächlich einen Kitaplatz bekommen. Ob der verlost, mit Bestechung oder durch Übernachtung auf dem Bürgersteig ergattert wurde, bleibt jedem selbst überlassen. Trotzdem ist da die traurige Geschichte einer Arbeitskollegin, die für ihre beiden Kinder keinen Platz bekam und nun die gesamte Arbeits‑, Haushalts‑, Erziehungs- und Ausgabestrategie, die Wohnungswahl und Zukunftsplanung umorganisieren muss. Das ist die Realität, und die ist im einen oder anderen Fall tatsächlich mit einer heißen Nadel gestrickt.
Ergebnis: Uns wird übel beim Gedanken, keinen Kitaplatz zu bekommen. Wir gehen auf Nummer sicher und fragen ein Dreiviertel Jahr vor Semesterbeginn an, und greifen in die Trickkiste:
Gut organisiert ist halb betreut: Nicht alle Kitas erkennt man auf den ersten Blick
Wir besorgten uns erst mal Listen von Kitas, beim Jugendamt und über Google Maps, um eine eigene Bewertung vorzunehmen und Anfrage- und Bewertungsprotokolle anzulegen. Überraschend: Es gibt mehr Kitas als gedacht. Insbesondere hinter verrauchten Milchglastüren mit Pudelbildern »Wir müssen draußen warten«, wo wir zuvor Pilskneipen vermuteten, waren in Wahrheit Kitas versteckt. Kleine Kitas (ein Dutzend Kinder, ein Betreuer), aber Kitas. Dementsprechend überlegten wir uns Kriterien für eine Excel/Online-Liste, die Kita-Go/No-go-Liste:
- Entfernung zur Wohnung (auch: Anzahl der Straßenüberquerungen — Hauptstraßen zählen als zwei Überquerungen)
- Größe (Anzahl der Kinder/Gruppen)
- Betreuungsschlüssel (wie viele Menschen über 18 geteilt durch Menschen unter 6)
- Holz oder Plastik (sieht man gut, wenn man die Nase an die Fenster drückt)
- Ausrichtung (Multikulti oder Ku-Klux-Klan, nach Geschlechtern getrennte Gruppen, vegan)
- Größe des Außengeheges (auch über Googles Satellitenbilder in den Hintergarten gucken)
- Speckigkeit (dafür bekommt man mit der Zeit ein Gefühl; Indikator sind beispielsweise regelmäßig angeklebte Türschilder »Geschlossen wegen Schweinepest«)
In Folge besuchten wir die Kitas nacheinander in konzentrischen Kreisen um unser Zuhause und befüllten die Liste. Nicht nur zur Bewertung, sondern auch zur Platzierung kleiner Minikameras, um den Eigenarten der Betreuer auf die Schliche zu kommen. Denn wir wollten doch nichts dem Zufall überlassen.
Bestechung: Sicher ist sicher
Ein Zwischenergebnis dieser Liste waren Persönlichkeitsprofile, dank derer wir zum Vorstellungsgespräch mit perfekten Geschenken aufwarten konnten. Ein auffällig auf dem Tisch platzierter Bargeldumschlag, ein Autoschlüssel mit einem dreizackigen Stern oder die letzten Weihnachtsplätzchen – für die erste soziale Prägung unseres Sohns ist uns nichts zu teuer.
(Mit der Messbarkeit dieser Maßnahme ist das aber leider so eine Sache. Vielleicht später einen Fragebogen an die Absagekitas schicken »Hat Ihnen unser Geschenk nicht gefallen: ❌/✔«?)
Minderheiten und Randgruppen ausschließen: Vorsicht, Karma
Dieser Aspekt kostete einige Karmapunkte (einige Hundert Karmapunkte, um genau zu sein), reduzierte die Warteliste aber um ein Vielfaches. So funktioniert’s: Dekorieren Sie vor der Eltern-Vorsprechstunde am Mittwochnachmittag Aushang und/oder Fassade der Kita mit gezielt abschreckenden Symbolen. Zum Beispiel (wenn Ihr Nachwuchs blond ist) mit dem Bild eines schwarzhaarigen Kleinkinds und den Worten »Wir müssen draußen bleiben«. Oder einem durchgestrichenen Regenbogen. Oder einem durchgestrichenen Apfellogo. Oder einem Kreuz mit einem darauf genagelten Mann mit langen Haaren. Bonuspunkte gibt’s für etwas mehr Aufwand: ein paar um den Eingang gestreute Kondomtütchen und Spritzenkanülen.
Aber Vorsicht: Nach der Eltern-Vorsprechstunde sollten Sie diese Markierungen tunlichst wieder entfernen, sonst gerät diese Kita in einen unaufhaltsamen Broken-Windows-Strudel und muss auch auf Ihrer Kita-Go/No-go-Liste entsprechend markiert werden.
Elterninitiativen: Fake it till you make it
Last but not least erörterten wir auch private Einrichtungen. Bei von Elterninitiativen geführten Kindergärten spielte nicht nur das Bestechungsgeld eine wichtige Rolle, sondern auch das Engagement der Eltern. Know-how ist gefragt, das man zur Pflege und Wartung, und Horizonterweiterung der Kids einsetzt.
Zum Beispiel: Kochen, Gitarrespielen, Jonglieren, Kloputzen
Ideal wäre natürlich: berühmt sein, einen Spielplatz besitzen, Pilot sein
Ich kann aber nur: Grillen, pfeifen, und etwas so schlecht putzen, dass ich nie wieder gefragt werde
Aber das muss ja keiner wissen. Also verkleideten wir uns im hippen Berliner Viertel Prenzlauer Berg mit Vollbart, Vintage-Kleid, Röhrenjeans und Hornbrillen und gaben uns als Musik- und Modestudenteneltern im 24. Semester aus (gute Anleitung). Leider waren wir mit unserem Billigplastikkinderwagen vom Supermarkt vor Ort, sodass uns der Kiezaufenthalt für die nächsten zwei Jahre per einstweiliger Verfügung verwehrt bleibt. (Den Link zur ganzen Buggy-Story findet Ihr unten.) Aber unsere Liste war schon lang genug.
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Es ist geschafft: Wir stehen auf 142 Wartelisten und erörtern zur Sicherheit auch die Militärakademie in West Point. Die hat ein großes Außengehege und viel Spielzeug, aber die aktuelle Ausrichtung des umgebenden Kiez (mauerbauende Führer) passt nicht ganz in unser Erziehungskonzept.
Demnächst werden wir all diese Institute anrufen und fragen, wie es denn mit der Warteliste aussieht. Ob unser Kleiner denn aufgenommen wird. Damit wir ihn endlich in naher Zukunft abgeben können. Und frei sind. Frei, zu tun, was wir wollen. Also arbeiten.
Nicht jedoch in Berlin!
Hier dürfen die Eltern nicht sofort mit den Arbeitskollegen spielen gehen, denn es herrscht das Berliner Eingewöhnungsmodell. Man fand nämlich heraus: Was seit Tausenden von Jahren bei Hunden funktioniert, funktioniert auch bei Kindern. Über mehrere Tage, oft sogar Wochen, werden die an das neue Alphatier gewöhnt. Währenddessen warten die Eltern draußen, und gründen Elterncafés, um schnell an Ort und Stelle zu helikoptern, wenn der Nachwuchs weint, schreit oder sonst wie Laut gibt.
Für diesen Part habe ich mich übrigens freiwillig gemeldet in unserer gemischten Muttervaterelternzeit mit Elterngeld Vario Extra Plus 24. Ich bin gespannt, als Augustiner-Edelstoff-Vater die Latte-Macchiato-Mütter zu treffen und über den Kitaalltag herzuziehen. Gemeinsam würden wir einen Weg finden, mit dem es unsere Kinder und deren Kinder mal besser haben werden.
Und darum melden wir jetzt schon unsere ungeborenen Enkel vorsorglich auf den Wartelisten der Kitas an.
Euer 8BitPapa
P. S. Leserfeedback: Warum machen wir es nicht wie beim Buggy (hier nachzulesen: Der Buggy-Plan)? Warum lassen wir uns den Kitaplatz nicht einfach schenken?