Ein Jahr gehst du schon zur Kita. Ein Jahr Kontroll- und Kanalisierungsverlust mit diesem befremdlichen Gefühl »Was macht mein Kind da eigentlich 18 Stunden lang mit all dem pädogischem Fachpersonal, und zwischen Thorben, Eylül, Saruman und Nelly?« Das ist so eine unglaublich lange Zeit, jeden Tag. Ich hätte dich viel lieber bei mir in dieser Zeit. Trotz deiner terrible Twos. Dabei sind die sozialen Kontakte und ist die pädagogischen Steuerung doch so wichtig für dich und deine Entwicklung. Aber stimmt das wirklich?
Damit wir in regelmäßigen Abständen erfahren, wie du gebrainwasht wirst, wie es um den Aufstieg in die nächste Kitastufe steht und was da sonst so alles in den quietschbunten Wänden passiert, gibt es das berühmte Mitarbeitergespräch – kurz nach deinem zweiten Geburtstag. Schraubst du Kugelschreiber schnell genug zusammen, dass dir die nächste Kindergeldgehaltsstufe zusteht? Bist du hilfsbereit und zeigst du deinen Kollegen, wie man die Etiketten möglichst gerade aufdrückt? Schummelst du auch nicht beim Briefmarkenaufkleben? Steht dein Lohn überhaupt im richtigen Verhältnis zu Geschwindigkeit und deinen Leistungen? Ein Lohn übrigens, von dem wir noch keinen Pfifferling gesehen haben, obwohl du hier mitisst, wir deine volle Pflege übernehmen, du ein ganzes Zimmer, 1 x 2 m, möbliert, dein Zuhause nennst, und schon Hausrat im Wert einiger Hundert Euro vernichtet hast. Irgendwas stimmt nicht an diesem System, und darum hören uns ganz genau an, was die Betreuer da heute erzählen.
- So finden wir beispielsweise heraus, dass du in der Kita ganz und gar nicht Essen und Besteck und volle Gläser Milch auf den Boden wirfst.
Zu Hause wirkt es so, als gehört das zum Programm. Ist es dir in der Kita zu peinlich vor deinen Kumpels, aber zu Hause lässt du die Sau raus? - Du scheinst der kooperativste Zweijährige beim Windeln zu sein – du singst sogar dabei!
Bei uns wirfst du scharfkantige Spielsachen an den Kopf des Wickelnden und trittst mit Karatehieben in die Magengrube, drehst dich auf den Bauch oder sträubst dich mit allen Vieren gegen jegliche Aktion, die auf der Wickelunterlage stattfindet - Mittags legst du dich hin und hältst Mittagsschlaf. Einfach so!
Zuhause forderst du nicht nur Schlaf-gut-ein-Milch, einen wohltemperierten Schnuller und das elterliche Bett für Deine Mittagsruhe ein, du erwartest auch mindestens einen Begleitschläfer, dessen Armbeuge dir starr für zwei Stunden als Kissen dient. - In der Kita isst Du alles. Alles! Mit Nachschlag!
Ist ja nicht so, dass es bei daheim nur seltsame Dinge gibt, wie Gemüse, Dörrobst und Schwarzbrot, aber was vor einem Jahr so hoffnungsvoll begann (damals hattest du ausnahmslos alles gegessen; zumindest püriert), ist zu einem Trauerspiel geworden. Bald kochen wir nur noch für zwei und stellen einfach eine Brezel und ein Faß Butter daneben. - Du redest gut und viel. Und da bin ich froh. Denn mit dir möglichst früh möglichst effektiv kommunizieren zu können war unser Ziel, um Missverständnisse und falsche Bestellungen im Restaurant ausschließen zu können. Wie frustrierend muss das sonst sein.
Man stelle sich vor, mit einem Zweijährigen während des Essens dauernd über »abu abu abu« reden zu müssen. Ob es viele solcher Kitalitonen bei dir gibt? – Man sagt uns, dass du deshalb gerne mit den Älteren abhängst! Aber nicht das Rauchen oder Saufen abgucken! - Du bist sehr agil und bewegst dich gerne. Keine Brücke zu weit, kein Turm zu hoch, kein Überhang zwischen Tisch und Stuhl und der anderen Seite des Grand Canyon zu weit.
Bin gespannt wie hoch die Schutzengelrechnung dieses Jahr wieder ist.
Denn in der Kita ist freilich alles hübsch abgesichert und ein Betreuer in unmittelbarer Fangreichweite, während man daheim einfach mal fünf Minuten nichts von dir hört. Stellt sich heraus, dass du in solchen Fällen mit Stühlen und Kissen einen Weg vom Lernturm über die Küchentheke bis zur oberen Ablage des Buffets gebaut hast, weil du uns gestern beim Schokoladenaschen erwischt hattest und jetzt weißt, wo der Vorrat liegt. Verdammt. - Kurios: Der Inhalt deiner Windeln bzw. präventive Maßnahmen (AKA auf die Toilette gehen) interessieren dich überhaupt nicht.
Das überrascht mich außerordentlich, denn deine Nase ist ja gut geschult. Du riechst zu Hause gebunkerte Schokolade und frittiertes Hühnchen schon ab der S‑Bahn-Station. Aber keine Panik, das soll wohl jetzt langsam kommen, so ab 2einhalb. - Jetzt wird’s nochmal interessant: In der Kita verneinst du nichts??!?
Zu Hause ist es das neue Spiel seit deinem Geburtstag:
»Ein Glas Milch?« »Nein.«
»Wollen wir Zug spielen?« »Nein.«
»Windel wechseln?« »Nein.«
»Eine Gabel von diesen Trüffeltortellini mit 50 Monate lang gereiftem Parmigiano?« »Nein.«
»Alle Folgen Star Trek angucken, bis uns die Augen rausfallen?« »Nein.«
– Wir kennen ja das Spiel. Aber in der Kita? Uns wurde berichtet, dass du der positivste, freundlichste und kooperativste Mitarbeiter bist, den es hier je gegeben hat. Was passiert da auf dem Weg zu und von Zuhause?
Das ist wahrscheinlich alles weder überraschend noch bemerkenswert. Aber es klärt bei mir tatsächlich die Frage, was du da den ganzen Tag in der Kita machst: Du führst ein Doppelleben! Denn du musst natürlich für dich herausfinden, was gesellschaftlich und persönlich ok ist und was nicht. Andere Leute schlagen? Zu riskant für dein gesellschaftliches Umfeld. Aber bei deinen Eltern macht es doch sicher nichts aus, mal zu sehen, was eigentlich passiert, wenn man ihnen einen 10-kg-Medizinball ins Gesicht pfeffert.
Na gut, ich weiß jetzt Bescheid. Das nächste Mal schreiend im Wohnzimmer stehend, ein Bein eingeklemmt, im Schal einverwickelt, die Milch ausgegossen, nasse Hose und Füße, und dein Lieblingsspielzeug auf dem Boden zerscheppert?
Vergiss es. Ich weiß, dass das in Wahrheit keine Probleme für dich sind und du nur meine zwei Minuten auf der Couch sabotieren möchtest.
Nee nee. Ich nippe weiter an meinem Bier und warte aufs nächste Kindergeld, um all die Dinge zu ersetzen, die heute schon wieder kaputt gegangen sind.
Ach, jetzt hör doch auf so einsam vor dich hin zu wimmern, nur weil Bauklötze nicht in der Luft hängenbleiben. Ja, ich komme doch schon. Hab dich doch lieb.
Dein 8BitPapa