Erinnern Sie sich an die Zeit, als Kinder einfach so frei herumlaufen durften? Zum Beispiel in Restaurants? Das nicht enden wollende Gequengel und Geschrei, Stühleherumrücken und Zwischendentischenlaufen, man verstand sein eigenes Schmatzen nicht mehr. In der U‑Bahn und im Bus gab es zur Mittagszeit keine freien Plätze, und Parkbesuche waren die Hölle. Penetrantes Lachen überall, und »Entschuldigung, schießen Sie den Ball einfach zurück?«, wenn man eigentlich seine Ruhe haben wollte. Das waren schlimme Zeiten.
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Aber zum Glück gibt es inzwischen kinderfreie Zonen.
Der Haken: Wir leben seit einiger Zeit auf der anderen Seite des Kinderzonenkonflikts. Unser Sohn ist 17 Monate alt, erforscht seine Umgebung unbarmherzig und ist dabei so neugierig wie ein eineinhalb Jahre altes Baby. Er zieht alles Greifbare vom Tisch, schiebt Stühle neben Kommoden und krabbelt auf absichtlich fern von Kinderhänden platzierte Oberflächen und zieht Schubladen mit lebensgefährlichen Werkzeugen auf. Zu Hause lässt sich die Neugier und Energie noch kanalisieren. Aber unterwegs? Draußen? In Deutschland? Undenkbar. Deshalb verlassen wir nur noch ganz selten die Wohnung. Wenn es unbedingt sein muss.
Zum Beispiel an einem Samstag, wenn wir die Großeltern im »Kinder-geduldet«-Café Parfois Petitgrand treffen. Endlich mal raus aus der Bude.
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Der Wecker krabbelte. Endlich Samstag. Wir zuckten mit den Schultern, schoben Babyfüße beiseite und fanden uns damit ab, dass wir auch an diesem Wochenende zusammen mit Amseln und Zilpzalpen aufstehen würden. (Ausschlafen ist ein Konzept, das Kinder erst mit der Einschulung verstehen.) Wozu also die Morgenroutine ändern, wenn sie doch schon werktags so gut funktionierte, wenn wir auf keinen Fall unseren Spazier-Slot zur Kita verpassen durften? Asynchron duschen, anziehen, und rasch sein erstes Frühstück zubereiten, denn ein essender Kindermund ist ein zufriedener Kindermund. Dann den Kleinen online einchecken, dass er noch lebte und bei uns wohnte, wickeln, eincremen, Vitamin-D-Tropfen, zweites Frühstück, nochmal wickeln, Zähneputzen, und, wie bitte, das ist nicht dein Ernst, nochmal wickeln. Schließlich noch die grellrote Kinderuniform mit dem grellgelben Kreis auf der Brust anziehen, die Passanten und Verkehrsteilnehmern auf den für Kinder freigegebenen Straßen schon früh warnt, was da auf sie zukommt. Wir sagen dem Kleinen dann immer, das ist ein Superheldenanzug.
Wir wohnen in einem zweistöckigen Apartmenthaus in einer kleinen Seitenstraße, die eigentlich kinderfrei ist. Die Ausnahmegenehmigung erhielten wir wegen meiner Krankheit, ein Umzug ist zum jetzigen Zeitpunkt unzumutbar — Glück im Unglück. Dafür müssen wir allerdings ein paar Abstriche machen. Nichts Schlimmes. Fahrradanhänger und Buggy werden jeden Tag in den Keller gebracht. Und das Treppensteigen üben wir besser woanders, denn so lange wie der Kleine braucht, mit seinen fortwährenden Kommentierungen »Trappa taigen«, sorgte der Aufstieg schon für so manche Ruhestörungsermahnung (8 haben wir schon, bei 12 kommt das Kinderamt). Auch müssen wir nachts die Fenster geschlossen halten, damit kein spontaner Kinderalbtraumaufwachschrei nach außen dringt. Im Sommer ist das eine Herausforderung. Dafür haben wir aber unser eigenes Reich im Dachboden, möglichst isoliert von den Nachbarn, in dem sich der Kleine fast wie in einem normalen Zuhause, ein bisschen ruhiger eben, ausleben kann.
Diesen besagten Samstag lief alles wie am Schnürchen. Ich holte den Buggy aus dem Keller, während meine Frau mit dem Kleinen zur Hauptstraße eilte, um dort endlich seinen Knebel herauszunehmen. Dort warteten wir auf den Bus der K‑Linie, die leider etwas seltener fuhr und doppelt so teuer war. Ein Vorteil allerdings: Hier waren wir sicher vor mürrischen Zeitgenossen, die so gar nichts mit Kindern anfangen konnten und seinerzeit sicher die AGK, die Alternative gegen Kinder, gewählt hatten. Doch aus der Busfahrt wurde nichts. Wie unsere App Green Kinder-Book meldete, gab es heute logistische Probleme mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln und alle Extrabusse wurden der Ü65-Linie zugewiesen. Zurecht, denn die älteren Mitbürger hatten größere Handicaps mit dem Laufen als wir. Wie wird das wohl gehandhabt, wenn man als Oma oder Opa mit dem Enkel unterwegs ist? Darf man dann auch einen Ü65 benutzen? Ich glaube nicht.
Zum Café mussten wir einige Umwege in Kauf nehmen, zum Glück gab es aber inzwischen passende Overlays für Google Maps: Neben den Auto‑, Bus- und Fahrrad-Icons ist ein kleiner Buggy hinzugekommen. Das haben sie schön gemacht. Es vibriert und trötet auch ein lauter Alarm, wenn das interne GPS feststellt, dass man eine Kinderzonengrenze überschreitet, tolle Sache. Wir betrachteten die Extrakilometer als praktischen Extra-Workout.
Das Parfois Petitgrand war ein typisches »Kinder-geduldet«-Café in unserer Gegend. Denn die reinen Kinder-Cafés waren den reinen Kindervierteln vorbehalten, in Berlin Prenzlauer Berg Nord, im entlegenen Teltow Süd und in der berühmten Kindergasse in Kreuzberg. Dort zu leben, ist sicher auch kein Zuckerschlecken, aber wenigstens war man unter sich und die Ausgangssperren waren etwas großzügiger. Im Parfois Petitgrand waren Kinder wenigstens zwischen 9 und 11 Uhr im hinteren Gastraum geduldet. Wir hatten sogar Sitzplätze, denn der Öffi-Notstand hinderte heute viele Eltern beim Ausgehen. Oma und Opa hatten diesbezüglich ja Glück und waren schon da, schlürften Latte Macchiato und zückten ihre Fotohandys, als wir hereinkamen.
»Schön euch wiederzusehen! Hallo kleiner Mann, du bist ja groß geworden! Seid Ihr gut hergekommen? Die Busse…«
»Ja, das häuft sich in letzter Zeit. Halt ein bisschen mehr Sport.«
Wir befreiten unseren Sohn aus seinem Signalanzug und er erkundete prompt den Raum. Auf Kinderaugenhöhe befanden sich Bücherregale und Wände mit Holzinstallation zum Herumgrabbeln, ‑schieben und ‑drehen, wie früher. In einer Ecke stand sogar ein kleiner runder Tisch mit Malsachen und Zwergenstühlen drumherum. Wir hatten wirklich Glück mit diesem Café.
»Es wird immer mühsamer für euch, hm?”
»Ja. Letzte Woche wurden die Auflagen nochmal erhöht. Diesen Monat sind wir sogar schon mit dem Kindergeld im Rückstand.«
»Wenn Ihr Unterstützung braucht, Ihr könnt jederzeit kommen. Ohne den Kleinen halt.«
»Danke, das wissen wir zu schätzen.«
Die Oma hielt ihr Fotohandy hoch, als der Ausräumator wieder zurück zur Heimatbasis kam, um von seinen neuesten Entdeckungen zu berichten. Er naschte von seiner Brezel und präsentierte seinen neuesten, unglaublichen Schatz, ein altes Kinderbuch vor Omas Handyobjektiv.
»Wilhelm, mein Upload-Filter löscht schon wieder alle Bilder.«
»Zeig mal. Aja, du musst das Häkchen bei ‘Enkel’ setzen und mit deinem Fingerabdruck bestätigen.«
Wir öffneten das Buch zusammen mit dem Kleinen, aber jemand hatte alle Wörter überklebt. Also blätterten wir nur ein bisschen durch die Seiten. Es war die Geschichte eines Mädchens, das viele Bücher las, auf jeder Seite ein anderes, im Park, in Kindergarten, auf dem Spieplatz. Immer wieder wurde sie fast vom Ordnungsamt dabei erwischt. Sie kürzte ihre Haare, um wie ein Junge auszusehen, aber am Ende wurde sie trotzdem erwischt.
Mittendrin bemerkten wir, wie es um uns herum unruhig wurde. Auf der anderen Seite des Raums kontrollierte eine Patrouille des Kinderamts die Tische und scannte Kind für Kind. Schnell schoben wir das Kinderbuch unter ein Sitzpolster, woraufhin unser Sohn lautstark protestierte. Pst!
»Wir gehen jetzt besser. Noch ein Ticket können wir uns nicht leisten.«
»Hier ist noch etwas Schokolade für den Kleinen. Schnell, schnell. Das bekommt niemand mit.«
Draußen ließen wir es möglichst ruhig angehen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Kleine wollte auch mal den Weg bestimmen und die Welt um sich herum kennenlernen, warum nicht. Also inspizierte er Treppen, Türschilder, Gullideckel und Blätterhaufen. Und so vergaßen wir die Zeit, während wir ihn beobachteten, und verpassten die Mittagssperre, die am Wochenende strenger geregelt wurde. Wir hörten schon die Kinderfänger mit ihren verlockenden Eiscremewagen auffahren, zwischen den Häusern hallten liebliche Glockenspielmelodien. Wir liefen schneller, ließen den trägen Buggy zurück und trugen den Kleinen am Körper, unter der Jacke versteckt. Nahmen Abkürzungen über Kinderverbots-Straßen, während unsere Smartphone Alarm schlugen. Und erreichten endlich unser trautes Heim. Pst, leise.
Wir begleiteten den Kleinen in seinen Mittagsschlaf und grübelten nach, über die Vergangenheit, die Situation, die Zukunft. War es Zeit, aufzugeben? Hätten wir die Zeichen früher erkennen müssen? Alles begann mit öffentlichkeitsgeilen Restaurantbesitzern, die sich mit Zeitungsschlagzeilen mehr Gäste, eine ganz besondere Zielgruppe, erhofften. »Restaurant verweigert Kindern den Zutritt.« Was waren die Stimmen laut; wie bei der NSA-Affäre und Artikel 13. Aber letzten Endes unternahm niemand irgendetwas; nur ein paar Blogger schrieben sich die Finger wund. Vielleicht sollten wir erstmal einen unauffälligen Urlaub planen, in einem kinderfreundlichen Land? Es war freilich schwierig, geeignete Angebote zu finden; abseits von nokiddo.de und exbebia.com, jetzt da die meisten Pauschalreisen über die NurAirWachsen Airline vermittelt wurden. Griechenland galt als Geheimtipp. Was für ein Glück, dass wir als Deutsche hier einen Stein im Brett hatten.
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Dieser Text entstand aufgrund öffentlich gewordener Stimmen, es sei doch gar nicht schlimm, ja sogar erholsam, Kinder aus Bereichen unseres Lebens wegzusubtrahieren, kinderfreie Zonen zu schaffen. Das Ausblenden und Wegignorieren von Untergruppen unserer Gesellschaft ist ein so gutes Konzept, dass es sich seit Jahrhunderten bewährt hat, damit es dem größeren Teil der Gesellschaft gut geht. Nach Bojoranern mit ihrer fremden Religion, Andorianern mit ihrer blauer Haut und Ferengi mit ihren ungewöhnlichen Sexualpraktiken, erwischt es nun kleine Homo sapiens. Denn die sind laut, stinken, und wollen die ganze Zeit, dass wir ihnen etwas zeigen oder sie bejubeln. Und sie sind einfach nur nervig. Welche *freien Zonen kommen als nächstes?
Euer 8BitPapa
Dies ist ein Artikel zur Blogparade
›Kinderfreie Zonen‹ beim Magazin eltern.de
P. S. Ich wurde so spät Papa, weil ich mich die letzten 30 Jahre größtenteils in schon existierenden kinderfreien Zonen aufhielt. Ohne es zu wollen oder es zu wissen. Es waren einfach nirgends Kinder, außer bei der Oma oder der Tante, oder, wenn man zu früh auf der Eislaufbahn seine Runden drehte oder im Freibad Freunde traf. Jetzt bin ich Vater, einer mit grauen Haaren und kaputten Knien, und ich bereue es, das Kinderhaben so spät kennen und lieben zu lernen.